Du, lass uns mal drüber reden

WORKSHOP Weil Grüne gern reden, die Parteitage aber immer voller werden, wurde in Kiel ein neues Modell ausprobiert, bei dem jeder mitreden kann

Eine kleine grauhaarige Delegierte fragt etwas verzweifelt: „Was können wir kleinen Parteimitglieder tun, um bei einer Lösung mitzuhelfen?“

Jetzt darf Claudia auch mal was sagen, denn sie hat sich schon ganz lange gemeldet. Das mit den Stromrechnungen in Griechenland, sagt Claudia, das ist doch verrückt. Dass Menschen, die ihre Steuern nicht zahlen könnten, jetzt die Energie abgestellt wird. Die Runde nickt.

In einer Ecke der leeren Halle haben drei Dutzend Delegierte Stühle zusammengerückt, Moderator Sven Giegold sitzt locker auf den Stufen der Bühne, und Parteichefin Claudia Roth gibt das Mikrofon weiter an einen Mann, denn die Rednerliste ist selbstverständlich quotiert.

Die Grünen haben in Kiel etwas Neues ausprobiert. Parteitage sind normalerweise eine technische Veranstaltung. Es gibt gesetzte und geloste Beiträge, Rede und Gegenrede, Anträge zur Geschäftsordnung. Da aber die Grünen gern diskutieren und sich die meisten beteiligen wollen und die Partei ständig wächst, stößt dieses System an Grenzen.

Deshalb also der Workshop. Alle dürfen mitmachen. Und so irren Hunderte Abgeordnete durch die verwinkelten Flure der Sparkassen-Arena, um ihren Raum zu finden. 13 Themen hat sich das Organisationsteam überlegt, die Gruppe neben der Bühne diskutiert über „Demokratie in Krisenzeiten – Krise der Demokratie?“

Ein weites Feld, in dem man sich leicht verlaufen kann. Giegold, der im EU-Parlament sitzt, bittet erst, näher heranzurücken – „damit es workshoppig wird“. Und umreißt dann ein paar Probleme. Selten seien Entscheidungen der demokratisch gewählten Parlamente auf so großen Widerwillen in der Bevölkerung gestoßen wie jetzt, sagt er. Großlobbyisten könnten zudem ihre Interessen viel schlagkräftiger vertreten als Institutionen der Zivilgesellschaft. „Das führt zu der großen Frage: Wer hat eigentlich die Macht?“

Schnell entsteht eine spannende Debatte. Der Abgeordnete Hans-Josef Fell sieht eine „schleichende Entwicklung mit antidemokratischen Effekten“. Populisten böten Scheinlösungen an, die Probleme nicht lösten, sondern vertieften, was wiederum Extremisten Zulauf verschaffe. Eine Fraktionskollegin räumt ein: „Wir sind am Ende unseres Lateins. Was die Fachleute vorschlagen, funktioniert nicht.“ Das hört man öfter in der Runde. Eine kleine grauhaarige Delegierte fragt etwas verzweifelt: „Was können wir kleinen Parteimitglieder tun, um bei einer Lösung mitzuhelfen?“ Ein Augsburger stimmt zu: Er habe noch keine Patentlösung gehört, „wie wir aus dem Scheiß herauskommen“.

Dann meldet sich ein älterer Jurist, er hält ein flammendes Plädoyer gegen Klüngelrunden der Regierungschefs, die parlamentarische Prozesse zunehmend ersetzten. Und eine junge Frau mit Brille attackiert kundig die Linie der Grünen-Spitze. Die müsse die Stimmung der Bevölkerung ernst nehmen. „Ich fühle mich erst als Deutsche, dann als Niedersächsin und dann vielleicht als Europäerin – und so geht es den meisten.“

Ist es angesichts dessen undemokratisch, mehr Europa zu fordern? Spannende Frage. In der offiziellen Europadebatte, die auf die Workshops folgte, kam sie nicht vor. ULRICH SCHULTE