„Die Tischkultur leidet am Desinteresse“

Die Gäste im Restaurant „K.Bert“ sind Kinder und Jugendliche. Beim neuen Projekt der Hildesheimer Tafel sollen junge Menschen nicht nur satt werden, sondern auch das Gefühl für gutes und gemeinsames Essen wiederentdecken

ANNELORE RESSEL, 68, ist Vorsitzende und ehrenamtliche Geschäftsführerin der Hildesheimer Tafel, die sie 1998 gegründet hat.

taz: Frau Ressel, wie kam es dazu, eine Tafel speziell für junge Menschen zu eröffnen?

Annelore Ressel: In vielen Familien werden qualitative Lebensmittel einfach nicht gekauft, weil diese zu teuer sind. Viele Kinder lernen deshalb diese Lebensmittel nie kennen. Die Vernachlässigung der Tischkultur in einigen Familien ist aber fast schlimmer. Denn das gemeinsame Essen hat eine psycho-soziale Komponente: Miteinander am Tisch zu sitzen und über aktuelle Probleme zu sprechen, sind ganz wichtige Aspekte in der Beziehung zwischen Kindern und Eltern.

Fehlt es diesen Familien also an Geld und Zeit?

Nicht unbedingt. Gutes Essen muss nicht teuer sein. Zudem hat qualitatives Essen an Wertschätzung verloren und viele Menschen haben das Kochen verlernt. Die Tischkultur leidet weniger an der fehlenden Zeit als vielmehr an der Nachlässigkeit der Eltern und dem Desinteresse der Kinder dafür.

Wollen Sie den Kindern ein Umfeld für mehr Ess- und Tischkultur bieten?

Unter anderem. Wobei die Idee für eine solche Einrichtung zustande kam, weil ich es nicht ertragen habe, dass der Zufall der Geburt entscheidet, was aus einem Menschen wird.

Die jungen Gäste kommen also aus armen Verhältnissen.

Nicht nur. Das ist nämlich der zweite Teil der Idee: Kinder und Jugendliche unterschiedlicher sozialer Herkunft sollen im Restaurant miteinander in Kontakt treten. Damit kann auch die soziale Verantwortung bei Kindern aus besseren Verhältnissen geweckt werden.

Werden die Kinder in dem Restaurant nur bedient?

Nein. Wir haben auch Aktionstage, an denen die Kinder unter Anleitung lernen, sich selbst ein gesundes Essen zu zubereiten oder ein Menü zusammenstellen. Dadurch bekommen sie ein Selbstwertgefühl: Wir sind wer.

Und was wird gekocht?

Wir verwenden wie die Tafel auch aussortierte Lebensmittel. Frische Sachen müssen wir einkaufen. Beim Zubereiten der Mahlzeiten benutzen wir keine Geschmacksverstärker oder Fertigsaucen. Alles wird frisch zubereitet. Neulich hatten wir einen Nudel-Gemüse-Auflauf: Nudeln mit ganz viel frischem Gemüse. Das war ein Renner.

Warum müssen die Kinder für das Essen bezahlen?

Das ist zunächst ein Teil der Philosophie. Sie sollen nicht das Gefühl bekommen, sie seien Bittsteller in einer Suppenküche. Dadurch, dass sie uns was geben, lässt man ihnen trotz ihrer Situation die Würde. Der symbolische Betrag von 50 Cent für ein Frühstück und 1,50 Euro für ein Mittagessen macht natürlich nur einen kleinen Anteil der Finanzierung unserer Einrichtung aus.

Wie werden die Kosten gedeckt?

Das Restaurant lebt von Spenden und Sponsoren. Bei der Einrichtung des Restaurants haben beispielsweise Elektriker und Maler geholfen. Dennoch haben wir eine Finanzierungslücke von 27.000 Euro, die wir versuchen, durch Spenden auszugleichen.

Wie reagieren die jungen Gäste auf das Restaurant?

Einige sagen, es sehe hier aus wie in einer „Lounge“. Die Kinder kommen zum Teil hier rein und sagen: „Ey, krass!“ oder „Oh, ist das geil!“. Zudem gehen sie mit diesem Raum respektvoll um. Es ist eben keine Kantine hier. Man merkt ihnen auch an, dass sie ein gewisser Stolz erfüllt. Ein Restaurant nur für sie ist neu. Hier stehen nicht die Erwachsenen, sondern die Kinder im Mittelpunkt.

INTERVIEW: JAN DREYLING