Ohne Joschka leben

Die Grünen zittern ihrem nächsten Parteitag entgegen. Verlieren die Spitzenleute noch einmal, wird es bitter für die Grünen. Bisher ist es nur eine kleine Krise – der Führung

Joachim Raschke, Jahrgang 1938, lehrte Politikwissenschaft in Hamburg und gehört zu den profilierten Parteienforschern Deutschlands. 2002 publizierte er „Die Zukunft der Grünen. So kann man nicht regieren“ (Campus Verlag).

Eigentlich sind die Grünen gut aufgestellt. Anders als der FDP werden ihnen Kompetenzen in mehreren Politikfeldern zugetraut; sie stürzen sich (bisher) nicht in das Getümmel neuer Linkskonkurrenz, bei der sie nichts gewinnen, nur verlieren könnten; sie haben – auf der Höhe der Zeit – das am besten durchgearbeitete Grundsatzprogramm aller Parteien; ihr Thema Klimapolitik ist in der Gesellschaft angekommen; nach dem Abgang Joschka Fischers sind ihre Wähleranteile gewachsen, nicht geschrumpft.

Doch es gibt ein Problem: die Führung. Die Spitzenleute kämpfen untereinander und mit den neuen Stimmungen in der Partei, die sie überrascht haben – endlich nicht mehr regieren, Befreiung von Regierungszwängen, die Welt neu erfinden. Die grüne Basis genießt „Wonnen der Opposition“, die den Führungsleuten in den 16 Jahren nach der berühmt-berüchtigten Bundesversammlung in Neumünster fremd geworden sind.

„Basis“ hat viele Gesichter. Der typische Grüne ist nun auch schon über 50, hat große Kinder und alt werdende Eltern zu versorgen, arbeitet seit Jahren in der Kommunalpolitik. Er denkt: Sollen doch die Jüngeren nach Göttingen fahren, wenn sie sich so sehr für Afghanistan interessieren. So gibt es, kein Wunder, nachwachsende Opposition. Eine Partei mit linken Werten bietet immer die Chance der Radikalisierung.

Die Richtungsunsicherheit der Grünen ist im Kern eine Führungskrise. Weil die Führung nicht einig ist, scheiterte der Göttinger Parteitag im September daran, die positive Botschaft hervorzubringen, auf die es angekommen wäre: Die Grünen stehen zum Afghanistan-Engagement. Nur in den zweitrangigen, mit guten Gründen strittigen Fragen Tornado und Abstimmungsverhalten der Abgeordneten sind sie unterschiedlicher Meinung. Wäre der Parteitag dem Antrag gefolgt, niemand hätte die Führungskrise bemerkt.

Nach Joschka Fisher gibt es keine Nr. 1 mehr bei den Grünen. Eine Partei ohne Nr. 1 aber ist schwächer als eine Partei, die ihre Führungsfrage geklärt hat. Die Grünen haben keinen Vorsitzenden. Sie haben viele Vorsitzende. Fischer war die Nr. 1 an den Strukturen vorbei. Erst die Führungslosigkeit der Basisdemokratie machte Fischers informelle Herrschaft über die Grünen möglich, seinen Bonapartismus im Taschenformat. Hätte es einen ordentlichen Vorsitzenden gegeben, Fischer hätte der Basisdemokratie sein autoritär-plebiszitäres System nicht überstülpen können.

Eine Strukturreform, die die Doppelspitzen abschafft, wird es auf Bundesebene nur nach einer Katastrophe der grünen Partei geben. Einen neuen Fischer wird es sicher nicht geben – bei allen Verrenkungen einzelner Diadochen. Die Frage ist nicht, ob die Grünen es ohne Fischer, sondern ob sie es anders als Fischer können. Die Chance liegt im wirklichen Teamwork: arbeitsteilig, kooperativ, konstruktiv. Der eine kann Öffentlichkeit, der andere Strategie, der dritte Problemlösung, keiner kann alles.

Heute erlebt man das kollektive Versagen als kollektive Führung. Das kleine, aber folgenreiche Moment der Hierarchisierung – wollen wir bei der nächsten Bundestagswahl nur einen oder doch zwei Spitzenkandidaten? – bringt die Partei aus ihrer bis dahin mühsam austarierten Balance. Vertrauensmangel und Feindseligkeit erlauben am Schluss nur das Duo sich belauernder, vielleicht bekriegender Parteifreunde. Doch das Duo Künast/Trittin wäre das Einfallstor für Medien-Kampagnen, die nur darauf warten, die grüne Führung aus- und die Partei durcheinanderzubringen.

Die Unfähigkeit zu effektivem Teamwork an der Spitze hat auch mit dem Negativerbe des Fischer-Regiments zu tun. Sein Führungsstil – autoritär, arrogant, sozialdarwinistisch am Survival of the fittest orientiert – hat destruktiv gewirkt. Jürgen Trittin, fester Teil des Fischer-Regimes, ist übrig geblieben, noch zynischer als er, aber anders als Fischer mit einem extremen Mangel an Überzeugungen. Fischer hat den Stil grünen Kleinunternehmertums forciert, bei dem jeder auf eigene Rechnung unterwegs ist.

Eine Partei ohne Nr. 1 ist schwächer als eine Partei, die ihre Führungsfrage geklärt hat

Die Fähigkeiten Fischers haben den Grünen geholfen, aber sie waren begrenzt. Er konnte drei Dinge: Machtfragen stellen und sich durchsetzen, Wahlkampf führen und Außenpolitik gestalten. Keine Antwort jedoch hatte er auf die Fragen: Wer sind und was wollen die Grünen? Wer ist und was will Joschka Fischer?

Allerdings hatte er eine feste Vorstellung. Fischer konnte die Grünen nur als Realos denken. Das ist ein Drittel der Partei. Dass man ein ideelles Zentrum der Partei speisen, ihre Gesamtinteressen bündeln muss, haben dann andere, wie vor allem Reinhard Bütikofer, besser verstanden.

In der Agenda-Frage halten die Grünen bisher Kurs, in Übereinstimmung mit dem, was sie gestern gesagt haben, mit ihren Überzeugungen vom vorsorgenden, „ermunternden“ Sozialstaat, mit ihrer jüngeren, selbsthilfefähigen Wählerschaft, mit ihrer Grundlinie, Ressourcen zugunsten von Bildung und Qualifizierung umzuschichten.

Schwerer tun sie sich mit ihrer eigenen Agenda. Wer zerreißt sich für das Grün in ihrem Parteinamen? Für Krieg-und-Frieden-Fragen in Afghanistan (und anderswo) bekommt man leicht die 56 Kreisverbände zusammen, die man für eine Sonder-Bundesdelegiertenkonferenz braucht. Wäre das bei Umweltpolitik auch so?

Eine modellökonomische Frage wie das Grundeinkommen können bald alle durchbuchstabieren, aber wie sieht es mit der Kampagnenfähigkeit bei der Klimapolitik aus, die man doch nicht der Regierung allein überlassen darf? Der Zeiger des grünen Kompasses ist höchst flatterhaft gerade auf seinem eigenen Terrain.

Eine Partei mit linken Werten bietet immer die Chance der Radikalisierung

Wofür sind denn die Grünen im großen historischen Sinne gut? Für die Politisierung der Ökologie und für eine Revitalisierung der Zivilgesellschaft. Die moderne Gesellschaft war weit fortgeschritten, als die Grünen entstanden. Es war ein Irrglaube, „das alles“ wie in einer Stunde null ändern zu können: durch Basisdemokratie, (Öko-)Sozialismus, Angriffe auf das Gewaltmonopol des Staates, Radikalpazifismus.

Ökologie war neu, Zivilgesellschaft wurde erdrückt durch die Übermacht von Markt und Staat – das sind die Kernelemente der Grünen. Bei allem anderem sind sie eine Modernisierungs-Linke der „Erweiterung“ (Freiheit und Gerechtigkeit) und des „Umbaus“ (von Sozialstaat, Marktwirtschaft, Industriegesellschaft). Genug identitärer Stoff, um sich selbstbewusst von der Retro-Linken der Linkspartei und der Schlinger-Linken der Sozialdemokraten zu unterscheiden.

„Oppositionsfähigkeit“ ist keine Kunst, wenn sie aus dem Oppositionsreflex des „Nein“ besteht. Eine Opposition, die man sich nicht auch als Regierung vorstellen kann, hat keine Zukunft, selbst wenn sie davon ausgehen kann, auch bei den nächsten Wahlen wieder ins Parlament einzuziehen. Das ist für die Grünen zu wenig. JOACHIM RASCHKE