Kritische Beamte stillgelegt

ATOM Bei der Stilllegung der deutschen AKW sei „bewusst“ ein „offensichtlich rechtswidriger“ Bescheid formuliert worden, sagt ein Ministerialbeamter

BERLIN taz | Der Verdacht steht schon länger im Raum: Hat die Politik 2011, als nach der Fukushima-Katastrophe die acht ältesten deutschen Atomkraftwerke stillgelegt wurden, absichtlich Fehler gemacht, die den Betreiber-Konzernen spätere Schadenersatzklagen ermöglicht haben? Im hessischen Untersuchungsausschuss zur Stilllegung des AKW Biblis hat nun ein wichtiger Zeuge diesen Vorwurf explizit erhoben.

„Es ist bewusst ein Bescheid formuliert worden, der offensichtlich rechtswidrig ist“, sagte Gerrit Niehaus am Freitagnachmittag nach Angaben von Teilnehmern. Er leitete 2011 im Bundesumweltministerium die Arbeitsgruppe „Bundesaufsicht bei Atomkraftwerken“ und hätte bei der Stilllegung daher eigentlich eine entscheidende Rolle spielen müssen. Doch der Beamte, der heute die Atomaufsicht im grün regierten Baden-Württemberg leitet, wurde seinerzeit offenbar kaltgestellt.

So landete ein ausführliches Papier zur detaillierten Begründung und Umsetzung der Stilllegung, das die Arbeitsgruppe von Niehaus erstellt hatte, nach seinen Angaben im Papierkorb. Stattdessen verschickte der als atomfreundlich geltende Abteilungsleiter an die für die unmittelbare Atomaufsicht zuständigen Bundesländer nur eine kurze, formale Begründung für die Abschaltung der AKW. Und mit der Begründung, dass seine Arbeitsgruppe für die Atomwirtschaft ein „rotes Tuch“ sei, sei diese auch bei der anschließenden Sicherheitsüberprüfung der Reaktoren außen vor geblieben, klagte Niehaus. „Wir wurden regelrecht ausgeschaltet.“

Niehaus sollte ursprünglich gar keine Aussagegenehmigung für den Untersuchungsausschuss bekommen. Erst nach breitem politischem Druck erteilte das Bundesumweltministerium sie dann doch.

Der Atomkonzern RWE hatte seinerzeit sofort gegen die Stilllegung seiner AKW geklagt. Das Verwaltungsgericht Kassel gab dem Unternehmen im Februar 2013 recht – unter anderem mit der Begründung, dass die hessische Regierung die Betreiber vor der Stilllegung nicht angehört hatte. Genau eine solche Anhörung hatte Niehaus in seinem vom Ministerium verworfenen Papier empfohlen. Auf der Grundlage des Verwaltungsgerichtsurteils klagt RWE derzeit gegen das Land und den Bund auf 235 Millionen Euro Schadenersatz für das Atommoratorium. Nach dem Erfolg von RWE haben auch die übrigen AKW-Betreiber geklagt; insgesamt geht es um Forderungen von 882 Millionen Euro.

Grüne und Linke zeigten sich erschüttert über Niehaus’ Aussagen. „Die Abteilung, in der es den nötigen Sachverstand für eine rechtssichere Stilllegung der deutschen Atomkraftwerke gegeben hätte, wurde offenbar gezielt ausgebootet“, sagte die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, Angela Dorn. „Wenn das stimmt, ist es ein Skandal erster Güte.“ Linken-Fraktionschefin Janine Wissler nannte die Vorwürfe „unfassbar“.

MALTE KREUTZFELDT