Endstation: „nicht ausbildungsreif“

JUGENDBILDUNG Wie „benachteiligten“ Jugendlichen sinnvoll geholfen werden kann, ist umstritten. In Hamburg ist man gerade dabei, eine ambitionierte Reform des Übergangs von Schule in Beruf und Studium umzusetzen

„Jeder hat seine Stärken, die man herauskitzeln muss“

FRANK ELSTER, GESCHÄFTSFÜHRER DER JUGENDBILDUNG HAMBURG GGMBH

VON OLE SCHULZ

Fast jeder zweite Schulabgänger sei „nicht ausbildungsreif“, viele hätten zudem „Erziehungsdefizite“ – solche und ähnliche Schlagzeilen mehren sich in jüngster Vergangenheit. Auch Unternehmen beschweren sich zunehmend über einen massiven Mangel an geeigneten Lehrstellen-Bewerbern.

Bei solchen Klagen schwingen allerdings oft auch stigmatisierende Untertöne mit, wie etwa der DGB immer wieder moniert. Viele Branchen hätten zum Beispiel auch „miese Ausbildungsverhältnisse“, so die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ingrid Sehrbrock. Die Betriebe müssten attraktiver werden, „zum Beispiel indem sie ihre Azubis besser bezahlen“.

Auch Frank Elster, Geschäftsführer der Jugendbildung Hamburg gGmbH, hält die Bezeichnung „nicht ausbildungsreif“ für eine nicht geeignete „abstrakte Kategorie“. Die Jugendbildung Hamburg fördert vor allem benachteiligte Jugendliche und bereitet sie auf den ersten Arbeitsmarkt vor. Laut Elster gibt es in der sogenannten Benachteiligtenförderung keinen Königsweg, man müsse mit jedem einzelnen Betroffenen individuell abstimmen. „Jeder hat seine Stärken, die man herauskitzeln muss.“ Zugleich müsse man aber auch die Betriebe gut kennen, so Elster, um abschätzen zu können, wer wohin passe.

Untersuchungen wie die Nationalen Bildungsberichte zeigen, dass gerade der Übergang von der Schule in Ausbildung, Arbeit oder Studium eines der strukturellen Probleme des deutschen Bildungssystems ist. Etwa 40 Prozent aller Jugendlichen, die heute eine Ausbildung anstreben, landen zunächst in einer Übergangsmaßnahme, die zu keinem qualifizierten Abschluss führt.

Diese häufig unkoordinierten, vom Staat, von den Ländern und privaten Trägern umgesetzten Maßnahmen kosten laut Schätzungen jährlich zwischen 4 und 6 Milliarden Euro. Diese Kosten sind ein weiteres Argument dafür, dass die Trennung von praktischer und höherer, theoriegeleiteter Bildung durch das duale Ausbildungssystem in einer Wissensgesellschaft immer weniger zeitgemäß ist.

Gerade die Hansestadt Hamburg bemüht sich nun um eine grundlegende Neuausrichtung des sogenannten Übergangsystems – als ein Teil der städtischen Bildungsreform. „Ziel des Senats ist es, möglichst alle Hamburger Jugendlichen so weit zu qualifizieren, dass alle Schulabgänger eine Berufsausbildung aufnehmen oder mit einem Studium an einer Hochschule beginnen“, sagt Rolf Deutschmann, Oberschulrat im Hamburger Institut für Berufliche Bildung und dort für Fragen des Übergangs Schule/Beruf zuständig. In Hamburg schaffen laut Deutschmann zurzeit nur 20 Prozent der Jugendlichen mit einem Hauptschulabschluss bei intensiver Beratung und Unterstützung durch die Koordinierungsstelle Ausbildung den Übergang in eine „ungeförderte“ Ausbildung.

Ausgangspunkt der Reform ist, dass man fortan bereits in der 8. Klasse mit einer „nachhaltigen Berufs- und Studienorientierung“ beginne, so Deutschmann. Das gilt vor allem für die „Stadtteilschulen“ – jene Hamburger Schulen, die im Vorjahr neben den Gymnasien zur zweiten weiterführenden Schulform wurden.

Dafür soll jede der 54 Stadtteilschulen einen „Beauftragten für Berufs- und Studienorientierung“ ernennen und jeder Schüler aus dem Lehrerteam einen festen Ansprechpartner für seine Berufsplanung erhalten. Dazu kommen unter anderem regelmäßige Praxislerntage oder Betriebspraktika an außerschulischen Lernorten und die Erstellung eines „Berufs- oder Studienwegeplans“, in dem die Erfahrungen und Kompetenzen der Schüler bei ihrem Berufswahlprozess dokumentiert werden.

Eine weitere bundesweite Neuheit sind vertraglich festgelegte Kooperationen zwischen Berufs- und Stadtteilschulen: „Berufsschullehrer kommen an die Stadtteilschulen, wo sie Schüler in den Jahrgangsstufen 8 bis 10 beraten und das Lernen an den außerschulischen Lernorten begleiten“, sagt Deutschmann.

Durch all diese Maßnahmen sollen mehr „marktbenachteiligte“ Jugendliche nach der Schule direkt in eine Ausbildung kommen. Der Clou dabei: Weil dadurch „Warteschleifen“ vermieden werden, werden Mittel frei, mit denen zusätzliche Lehrerstellen für die frühe Berufsorientierung an den Stadtteilschulen sowie den Einstieg in eine vollwertige Berufsausbildung im Rahmen des Hamburger Ausbildungsmodells finanziert werden können.

Weitere Neuerungen auf dem Weg zu einem wirklichen „Übergangssystem“ sind die Einführung einer dualen ganztägigen Ausbildungsvorbereitung mit dem zusätzlichen Lernort Betrieb sowie das Hamburger „Produktionsschulprogramm“ für die Jugendlichen ohne eine hinreichende Ausbildungsreife.

Auch Frank Elster von der Jugendbildung Hamburg begrüßt das städtische Reformvorhaben. Nur in einem Punkt geht es ihm nicht weit genug: „Wer die Situation benachteiligter Jugendlicher verbessern will, muss ihre konkreten Lebensumstände stärker berücksichtigen.“ Dazu gehören für Elster Fragen wie der familiäre Hintergrund, die weit verbreitete „verdeckte“ Wohnungslosigkeit, aber auch Drogensucht oder Überschuldung.

Hamburg wird derweil zum Vorbild für andere Bundesländer bei der Reform des Übergangs von der Schule in den Beruf. Auch die rot-grüne Landesregierung Nordrhein-Westfalens ist – als erster deutscher Flächenstaat – gerade dabei, das Übergangssystem zu reformieren. Nach Angaben der Landesregierung kostet es heute noch rund 640 Millionen Euro. Künftig soll es nun wie in Hamburg unter anderem eine frühzeitige Berufsberatung in allen Schulen spätestens ab der 8. Klasse geben. Zurzeit wird das Reformkonzept auf Landesebene abgestimmt, bevor es dann in zunächst sieben Referenzkommunen von NRW umgesetzt werden soll.