Tilo schont das Festland

Die Sturmflut fällt weniger dramatisch aus als erwartet. Schäden halten sich an der deutschen Nordseeküste weitgehend in Grenzen. Ostfriesische Inseln und Helgoland melden teilweise gravierende Abbrüche. Frachter verliert Container in der Nordsee

Die Deutsche Bucht ist das am stärksten von Sturmfluten bedrohte Gebiet weltweit. „Durch die Geografie der Nordseeküste und den Trichtereffekt der Elbmündung tritt dieses Phänomen hier häufiger auf“, sagt Sylvin Müller-Navarra, Leiter des Sturmflutwarndienstes beim Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie. Zudem biete das Wattenmeer mit sehr geringen Wassertiefen dem Wind viel Angriffsfläche. Es könne sich keine so starke Ausweichströmung am Meeresboden bilden. Deshalb sei die deutsche Küste bei gleichen Windgeschwindigkeiten stärker von Sturmfluten betroffen als beispielsweise England. Im diesem Jahr habe es an der deutschen Küste mit zehn bis 20 Sturmfluten recht viele gegeben. „Besonders ungewöhnlich war die Sturmflut im Sommer“, sagt Müller-Navarra. Mit dem Klimawandel habe das aber nichts zu tun. „Wir haben nicht mehr Sturmfluten als vor 50 Jahren.“ DPA

VON JAN ZIER UND JAN WEHBERG

Der Fotoapparat bleibt drin. „Dat lohnt doch gar nicht.“ Sturmfluten hat der alte Mann schon manche gesehen, früher ist er selbst zur See gefahren, jahrzehntelang. Doch was er hier sieht, am Deich in Emden, ist ihm keine Aufnahme mehr wert. Davon, sagt er, hat er mehr als genug. Nicht einmal die blaue Schiebermütze muss er festhalten, selbst wenn ihm der Wind ins Gesicht bläst. Sechs, sieben Windstärken werden es hier sein, aus Nordwest. Angekündigt war ein Orkan. Der Deutsche Wetterdienst hatte eine Unwetterwarnung herausgegeben, von Windstärken bis elf Beaufort war da die Rede, in Böen sogar zwölf. Und auch das Niedersächsische Landesamt für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) sprach von einer „schweren Sturmflut“.

Doch der Orkan blieb aus. Selbst vor Norderney erreichten die Böen nur neun Windstärken, also gut 80 Kilometer in der Stunde. Die Wellen schaukelten sich dennoch auf gut acht, neun Meter auf. Auf Borkum meldet die Polizei eine von den Fluten zerstörte „Milchbude“, und im Emden bekamen die Passagiere der Fähre aus Borkum nasse Füße: Ein Teil der Hafenanlagen war überschwemmt. In Schleswig-Holstein wurde am Morgen der Fährverkehr zu den nordfriesischen Inseln und Halligen vorübergehend eingestellt. Auch die Fähren zwischen Sylt und Dänemark fuhren nicht. In Bremerhaven ordnete das Schulamt an, den Unterricht für die Klassen eins bis zehn nach der dritten Stunde zu beenden.

Der Küstenschutz war in Alarmbereitschaft, auf den Inseln ebenso wie auf dem Festland. Gute drei Meter lag das Hochwasser in Emden über dem normalen Pegel, anderswo in Ost- und Nordfriesland waren es zwei bis zweieinhalb Meter. Also kein Vergleich mit der Sturmflut vor einem Jahr: Damals, am 1. November 2006, waren in Emden die Pegelstände 3,60 Meter über dem mittleren Tidehochwasser, am Emssperrwerk vor den Toren der Stadt sogar 3,90 Meter. Damals standen auch Büros unter Wasser. Gestern bestand Überflutungsgefahr allenfalls für Strände und Vorländer.

Der Kontrollposten des Hafenamtes am Emder Deich winkt denn auch ab. „Das ist Routine“, sagt er. Sie stehen immer hier, wenn Hochwasser ist. „Das kennen wir schon.“ Keine besonderen Vorkommnisse. Ähnliches hört man aus dem NLWKN. „Für den November ist das nicht ungewöhnlich“, sagt eine Sprecherin. Das seien eben die Zyklen der Natur. „Am Klimawandel“, sagt sie, „liegt es jedenfalls nicht.“

In Hamburg erreichte die Sturmflut am Nachmittag mit 3,33 Metern über dem mittleren Hochwasser ihren Höchststand. Vorsorglich wurden von Polizei und Feuerwehr Sicherheitsmaßnahmen getroffen, um die gefährdeten Gebiete zu schützen. Fischmarkt und Große Elbstraße standen unter Wasser. Dort mussten die Helfer einige Autos aus den Fluten bergen – zweimal mit ihren Insassen. Verletzte wurden aber nicht gemeldet. „Für Hamburger Verhältnisse ist das absolut nichts Besonderes“, sagte ein Feuerwehrsprecher. Im Hafen mussten die Einsatzkräfte einige losgerissene Kleinschiffe und Schuten sichern und Fluttore schließen. Nach Einschätzung des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie wird sich die Lage allmählich wieder entspannen.

Auf der Nordsee verlor das unter Panama-Flagge fahrende Schiff „NYK Antares“ auf dem Weg von Hamburg nach Le Havre (Frankreich) in der schweren Sturmflut 45 leere Container, teilte das Havariekommando in Cuxhaven mit. Die Position der Frachtkisten werde zur Zeit untersucht. Vermutlich werden sie an der niederländischen Küste bei der Insel Schiermonnigkoog angetrieben.

Dramatisch war die Situation auf den niedersächsischen Nordseeinseln. Dort führte die schwere Sturmflut zu teils erheblichen Dünenabbrüchen. Nach einer ersten Bilanz des NLWKN entstanden Schäden auf Juist, Langeoog, Spiekeroog und Wangerooge. „An diesen neuralgischen Punkten haben wir Dünenabbrüche erwartet“, hieß es beim NLWKN dazu. Zum Schutz der Küsten sind in diesem Jahr acht Millionen Euro investiert worden, wobei allein auf Juist und Langeoog mehr als 100.000 Kubikmeter Sand verbaut wurden. Beziffern ließ sich der entstandene Schaden noch nicht.

Die Hochseeinsel Helgoland meldet ebenfalls schwere Schäden. „So wie es aussieht, sind am Nordstrand der Düne hunderttausende Kubikmeter Sand vom Wasser weggerissen worden“, sagte Bürgermeister Frank Botter. Nachdem es zunächst nach einem normalen Herbststurm aussah, sei Deutschlands einzige Hochseeinsel von der Heftigkeit des Sturms überrascht worden. Einige Arbeiter wurden in Sicherheit gebracht, da ein Teil des Hafenbereichs überspült wurde. Seit dreißig Jahren sei Helgoland nicht mehr so stark von einer Sturmflut getroffen worden.

Auch die Nachbarländer sind vom Sturmtief betroffen worden. Im Rotterdamer Hafen haben die zuständigen Behörden zum ersten Mal überhaupt das 1997 fertiggestellte Sturmflutwehr wegen des hohen Wasserstandes geschlossen. Teile der norwegischen Öl- und Gasförderung wurden durch den Sturm lahmgelegt.