ORTSTERMIN: BÜRO-WEIHNACHTEN MIT CHARLES DICKENS
: Vor vollen Tellern

Die Geschäftsmenschen, die sonst hier sitzen, drehen sich kaum um, wenn das Ensemble an die Tische kommt

„God bless us, every one“, sagt Tiny Tim in „A Christmas Carol“. Seit Jahrzehnten schon tut er das: auf Buchseiten, auf englischen Fernseh-Bildschirmen, auf 3-D-Leinwänden und nun, schon im zweiten Jahr, auch in Hamburg-Bahrenfeld. Rechtzeitig fürs Fest hat dort das Theater Mignon Charles Dickens’ Weihnachtsklassiker aufgelegt, knapp zwei Monate lang begleiten zwei Schauspielbesetzungen dramatisch ein viergängiges, englisch angehauchtes Menü.

Die vier Schauspieler wirbeln durch den Raum, beschwören den Christmas Spirit – umso mehr, als Dickens’ Geister der vergangenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen Weihnacht fast völlig ausgespart wurden, damit alles auch zwischen die vier Gänge passt. Die moralische Läuterung des Geizhalses Ebenezer Scrooge durch diese Geister wird zum Lausbubenstreich der Familie, und für Tiny Tim ist kein Schauspieler übrig. Also spielt Hollert jemand aus dem Publikum in tiefer Stimme seine Segenssprüche daher: der Reporter des Elbvorortsblättchens.

Denn heute Abend ist ja die Presse da – und die Kinder der armen Leute: aus dem Haus der Jugend im Hamburger Problemstadtteil Steilshoop, von einer Schule in Barmbek. Und die Bezieher der Einkommenssicherung aus dem nahegelegenen Ortsamt Altona – wer zu rechten Zeit dort anstand, wurde zur Wohltätigkeitsveranstaltung geladen. Eigentlich nämlich kostet dieser Abend 84 Euro pro Gedeck.

„Schreiben Sie bitte nicht, dass das Stück besonders kinderfreundlich ist“, wird den Pressevertretern nahegelegt, „an die richtet sich unser Angebot ja nicht primär.“ Wer aber soll die disneyartigen Kostüme, die selbstgebastelt anmutenden Gruseleffekt-Musikinstrumente würdigen, wenn nicht die Kinder? Die Schauspieler freuen sich am regem Interesse des jungen Publikums an diesem Abend. Denn die Geschäftsmenschen, die sonst hier sitzen werden, drehen sich kaum um, wenn das Ensemble an die Tische kommt, um von dort aus die Handlung voranzutreiben.

Zu 60, 70 Prozent sollen die Vorstellungen schon ausgebucht sein – Firmen-Weihnachtsfeiern. Werden die Bürobeschäftigten sich fein machen und mit leuchtenden Augen Scrooges Werdegang verfolgen? Werden sie die Tage zählen, bis sie ins Theater gehen?

Die Kinder aus dem Haus der Jugend in Steilshoop haben sich schon lange gefreut. Ein bisschen größer hatten sie sich die Bühne vorgestellt, so ist zu hören, vielleicht mehr so wie bei einem Rockkonzert. Und gefreut hatten sie sich eigentlich auch vor allem auf das Essen. Dass der Teller vor ihnen noch fast voll ist, hat nichts zu sagen. Natürlich schmeckt es, aber ein wenig aufgeregt sind sie halt, die Schauspieler sind ja auch so toll, man versteht das Stück ja viel besser als im Kino, selbst wenn es dort in 3-D aufgeführt wird. Maik und Mandy heißen wirklich so, und sie würden auch 90 Euro ausgeben hierfür, sagen sie, plus Trinkgeld.

Was Charles Dickens dazu gesagt hätte, dass sein Stück abgespeckt und zur Begleitung eines exquisiten Haute-Cuisine-Menüs aufgeführt wird? Würde es ihn freuen, dass an diesem Abend 56 Menüs für lau verzehrt werden? Und dass auch das Theater an diesem Abend erklärtermaßen keinen Gewinn macht? Seine wahre Freude hätte er wohl an den großzügigen Kindern gehabt, aus Steilshoop oder Barmbek oder wie die Stadtteile auch heißen. REBECCA CLARE SANGER