KOMMENTAR VON ULRICH SCHULTE
: Möchtegern-Mindestlohn mit Hintertürchen

Was passiert mit der Friseurin, die per Tarifvertrag nur 5 Euro die Stunde verdient?

Der Vorsitzenden der CDU ist wieder einmal ein machttaktisches Kunststück gelungen. Kurz vor dem Parteitag hat Angela Merkel den Mindestlohnstreit in der Union entschärft, der beträchtliche Sprengkraft hatte.

Der Arbeitnehmerflügel, angeführt von der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft CDA, machte sich für einen an die Zeitarbeit angelehnten Mindestlohn stark, während der Wirtschaftsflügel solch sozialistische Anwandlungen stoppen wollte. Wären diese Positionen in Leipzig ungebremst aufeinandergeprallt, hätte dies das Bild der geschlossen agierenden Volkspartei empfindlich beschädigt.

Merkel hat diesen Konflikt so aufgelöst, wie es ihre Art ist: mit einem schwammigen Kompromiss, bei dem sich alle Seiten irgendwie als Sieger fühlen können. Sie hat dies mit sorgfältig gesetzten Signalen in der vergangenen Woche vorbereitet. Erst stellte sie sich hinter eine Lohnuntergrenze in tariflosen Bereichen, dann gab sie dem Wirtschaftsflügel Zucker, indem sie auf Differenzierungen drängte. Gleichzeitig blieb Merkel so diffus, dass sich niemand der Kontrahenten über Details aufregen konnte.

Legt man interne Befriedung als Messlatte an, handelt es sich um ein gelungenes Manöver. Legt man die Realität vieler Arbeitnehmer an, dann sieht das anders aus. Denn Merkels kleinster gemeinsamer Nenner beendet weder Lohndrückerei noch hebt er alle Löhne in Deutschlands über das Existenzminimum.

Nicht nur dass die weiche Formel viele Probleme außen vor lässt. Sie enthält auch unzählige Hintertürchen. Was passiert mit der Friseurin, die per Tarifvertrag nur 5 Euro die Stunde verdient? Was, wenn sich die Kommission nicht einigt? Wie viele verschiedene Lohngrenzen soll es geben? All diese Fragen lässt der Kompromiss ganz bewusst offen.

Denn eine schnelle Realisierung ist überhaupt nicht Angela Merkels wichtigstes Ziel. Ihr geht es um Diskurshoheit und Positionierung mit Blick auf die Wahl 2013. Eine CDU, die den Mindestlohn zumindest scheinbar diskutiert, macht dem politischen Gegner ein Thema streitig und bedient damit den gesellschaftlichen Trend.

Sogar die FDP profitiert von dem Möchtegern-Mindestlohn der CDU. Sie kann sich als letzte Verteidigerin der freien Marktwirtschaft gerieren, indem sie einfach laut Nein ruft. So sieht eine Win-win-Situation aus.