Weinberge mit Seeblick

Alte Ortschaften, schmale Wanderpfade und immer wieder der Genfer See, den man hier lieber „See zwischen den Bergen“ nennt. Das Weingebiet Lavaux zwischen Lausanne und Montreux wurde dieses Jahr Weltkulturerbe

ln den Sandsteinlagen entsteht ein Klima, wie es die „Grands Crus“, Dézaley und Calamin, lieben

VON KORNELIA STINN

„Avez-vous réservés?“, fragt die resolute ältere Dame freundlich und schiebt die blaue Kappe auf ihrem Kopf zurecht. Nein, haben wir nicht. Die Schlange der Wartenden ist groß, doch wir werden noch einen Platz bekommen, das sichert sie uns zu. Aber die Japaner dort, die sollen mal lieber nicht so weit weggehen, sonst kann es leicht passieren, dass der Zug ohne sie abfährt. Und der kommt auch schon wie ein zahmes grünes Krokodil auf quietschenden Rädern angekrochen. Mit Paul Bordez, dem Chef, persönlich am Steuer. Einstieg ist in Lutry, einem alten Fischerdörfchen direkt am Hafen. Nur wenige Meter unterhalb der Weinberge des Lavaux. Hierhin wird der kleine Zug die Wartenden bringen. Direkt zu einem der zahlreichen Weinkeller.

Seit Juni dieses Jahres können sich die Weinberge in den Höhen zwischen Lausanne und Montreux am Genfer See mit dem Gütesiegel „Weltkulturerbe“ schmücken. Einst von Mönchen in steile Felsen gehauen, umfasst das Weinbaugebiet 830 Hektar Reben, auf denen neben diversen feinen Tropfen die Grands Crus Calamin und Dézaley gedeihen. Eine Erkundung der Region inmitten steil aufstrebender Rebhänge offenbart traumhafte Blicke auf schneegekrönte Gipfel hinter den Weiten des Sees.

Doch erst einmal steigen wir in das Bähnchen und schon werden die Gläser verteilt. „Lavaux-Express“ steht darauf. So nämlich heißt der rollende Zug mit seinen offenen Fenstern, und er ist auch auf den Gläsern abgebildet. Die schicken kleinen Trinkbehälter werden zunächst der Weinverkostung dienen und danach als Souvenir zum Mitnehmen.

Nachdem auch die Japaner eingestiegen sind, geht es los. Der Fahrer drückt fröhlich auf die Hupe, und die Spaziergänger in den schmalen Kopfsteinpflastergassen winken den Passagieren zu. Bedächtig keucht der Zug in Richtung Reben hinauf. Jenen Reben, die im Juni von der Unesco zum Weltkulturerbe gekürt wurden.

Durchsetzt mit winzigen alten Örtlein und schmalen Wanderpfaden schlängelt sich das Lavaux zwischen Lausanne und dem hinter Montreux liegenden Schloss Chillon an dem See entlang, den die Menschen hier „Lac Léman“ nennen: „See zwischen den Bergen“. Lieber greift man nämlich in dieser Region auf die von Julius Cäsar stammende alte römische Bezeichnung zurück, als dass man die feine „Badewanne“ mit mediterranem Flair namentlich den Genfern zueignet. Zumal die doch eh nur an seinem kleinsten Zipfel residieren.

Zwischen den Bergen gefällt man sich da schon besser. Denn jenseits des tiefblauen Wassers drängen sie ja gleich ins Blickfeld: die Savoyer Alpen gegenüber am französischen Seeufer, die Walliser Alpen mit ihren steil hinter dem Wasserschloss Chillon aufragenden Dents du Midi und die Waadtländer Alpen mit dem Rochers de Naye. Wer von Deutschland kommend über Basel und Bern nach Lausanne mit der Bahn fährt, genießt den wohl schönsten Blick von oben auf die Rebhänge, den See und die Berge. Nichtsahnend fährt man bei Pidoux le Chexbres in einen Tunnel ein. Unvermittelt, wie aus dem Hut gezaubert, „trifft“ sie einen dann – diese Landschaft –, sobald der Zug aus der Tunnelröhre ins Licht gleitet. Aber mit dem kleinen Zug, dem Lavaux-Express, kann man direkt eintauchen in die Reben und auch den Rebensaft dort genießen, wo er gewonnen wird. So nimmt der Zug, nachdem er Lutry verlassen hat, nochmals einen kühnen Anlauf, bevor es hinaufgeht nach Aran. Prall locken hier die Reben an den Rändern. Würde man sich hinauslehnen, man hätte keine Mühe, die roten und grünen Köstlichkeiten klüfteweise abzupflücken.

Edel schimmert unten der See in seinem großzügigen Bassin, kräuselt sich sanft gegen den Dent d’Oche hinter den verschlafenen französischen Dörflein. Da – ein rebenumranktes Restaurant mit atemberaubender Aussicht auf den See – man muss es sich merken, sollte man einmal den Weg zu Fuß durch die Weinreben machen. Allein wegen des Panoramas.

Dabei könnte man auch die zahlreichen Lehrschilder studieren, die die Pfade säumen. Dann kommt Grandvaux, das Dorf der Weinetikette. Jedes Jahr veranstalten sie einen Wettbewerb, bei dem sie originelle Etiketten prämieren. Schmal sind die steinernen Pfade und steil. Doch der Chef weiß, was er seinem Fahrzeug zumuten kann.

Bald hebt sich der nadelspitze Kirchturm von Villette scharf gegen den See ab. Immer wieder strecken einsam stehende Weingüter ihre Dächer zwischen den Reben hindurch. Man mag anhalten und aussteigen. Immer wieder stehen bleiben und schauen. So viele Reben, so viel Wasser, so viele Berge. Klar zeichnet sich jeder einzelne Felsspalt der Savoyer Alpen gegen den stahlblauen Himmel ab. Und die Reben, die wie ordentlich gekämmt und gescheitelt erscheinenden Parzellen der Weinbauern, sie ziehen sich unendlich weit gegen den Horizont.

Ab dem Jahre 1142 waren es dereinst Zisterzienser, die die steilen Hänge für den Wein nutzbar machten. Sie terrassierten den felsigen Berg und stützten die Rebenhänge mit Mauern. Es gibt Terrassen, die sind nur eineinhalb Meter breit. Die Felsen speichern die Sonnenwärme, die der See reflektiert. So entsteht in den kalkhaltigen Sandsteinlagen ein Klima, wie es Dézaley und Calamin lieben. Das sind die ganz Großen, die „Grands Crus“ der Region. Die am häufigsten angebaute Sorte ist der Chasselas, in Deutschland „Gutedel“ genannt. Neben zahlreichen Weißen findet man auch Rote, zum Beispiel Pinot Noir, Pinot Gamay.

In Riez passiert der Lavaux-Express den kleinen Dorfplatz. Wenige Tische und Stühle kuscheln sich in einen Geranien-verwöhnten Hof. Klein, alles winzig klein inmitten unendlicher Rebweite. Ziel des Lavaux-Expresses ist heute der „Caveau des Vignerons“ in Epesses. Im Jahre 1964 gründeten die Bürger von Epesses eine Vereinigung, um den ersten Weinkeller im Waadtland einzurichten. Diese kaufte das urige alte Winzerhaus, in dessen Gewölbekeller die Weinproben stattfinden. Der Keller, in dem kleine Weinfässer als Tische dienen, ist an diesem Tag schon gut gefüllt. Viermal schenkt der Kellermeister in das mitgebrachte Glas ein: Epesses, Calamin und Dézaley sowie einen Roten – Pinot-Gamay. Da kann man sich das Lavaux auf der Zunge zergehen lassen.

Für den kleinen Sohn des französischen Ehepaares gibt es Traubensaft. Das junge Paar am Nachbartisch bestellt eine Käseplatte zum Wein. „Tomme“, eine Weichkäsespezialität der Region, gibt es hier zu kaufen. Andere lassen sich eine Platte mit Brot und Waadtländer Wurst dazu reichen. Nur langsam hat sich das Geschäft mit den Winzern angelassen, sagt Paul Bordez, der 1999 das kleine Weinbergzüglein auf den Weg brachte. Im Wechsel kehrt er mit seinen Gästen in verschiedenen Weinkellern ein – mal in Epesses, in Lutry, Cully oder Grandvaux. „Die brauchen eine Weile für Neues“, sagt er, „doch nun sind sie gern dabei.“

Wenn die Sonne beginnt unterzugehen, fährt der Lavaux-Express wieder zurück nach Lutry. Nun können die Gäste sehen, wie sich der Himmel rot verfärbt über dem See und die kleinen Orte in ein goldenes Licht getaucht werden. Zweifellos die schönsten Farben des Tages. Da treten einige den Rückweg lieber zu Fuß an, um dies länger genießen zu können. Besonders fußstarke Wanderer nehmen sich gleich für einen der nächsten Tage die gesamte Tour durch die Weinberge vor. Dreiunddreißig Kilometer lang ist der Weg, der die Reben des Lavaux von Lausanne bis Chillon durchquert. Verhungern braucht man dabei nicht – und verdursten erst recht nicht. Gar mancher Winzerkeller lädt unterwegs mit seinen Köstlichkeiten ein. Mit Weinbergfeten im Herbst wird das Label der Unesco im Lavaux gefeiert. Und der kleine Weinbergzug ist mit dabei.

www.lavaux.ch, www.lavauxexpress.ch