Wie hältst du’s mit der Intergratiön?

THEATER Zwischen HAU2 und Hector-Peterson-Schule liegt nicht nur der Landwehrkanal. Die Gruppe Turbo Pascal und Kreuzberger Schüler sprechen in „Publikumsbeschimpfung“ über Schulalltag, Entmutigung und Frust

Das junge Ensemble spricht seine Zuschauer als Klugscheißer, Subventionierte, Bio-Deutsche und Lehrerkinder an

VON TOM MUSTROPH

Die Gruppe Turbo Pascal und zwei Handvoll Kreuzberger Schüler rütteln anhand von Peter Handkes frühem Skandalstück „Publikumsbeschimpfung“ die Verhältnisse von Lehrern und Schülern, Jugendlichen und Erwachsenen, Bio-Deutschen und Postmigranten durcheinander. Mit den Holocaustnachwehen, wie einst Handke, gibt sich die an der Kreuzberger Hector-Peterson-Schule gecastete Crew dabei nur ganz am Rande ab. Und auch vor einer wirklichen Publikumsbeschimpfung scheut das Ensemble im dritten Stock des HAU doch zurück, selbst wenn es seine Zuschauer als Klugscheißer, Subventionierte und Lehrerkinder anspricht.

„Wir nennen es eine Publikumsbeschwörung“, verrät verschmitzt der Performer Veit Merkle. Das klingt sanfter, subtiler, weniger aggressiv und auch etwas geheimnisvoll. Beschworen, also auf neue Gedanken gebracht werden sollen die Zuschauer aber tatsächlich. Zu diesem Zweck hat die Gruppe Turbo Pascal ein paar „magische Praktiken wie Hypnose, Meditation und Gedankenlesen“ aus der Asservatenkammer der Kulturtechniken hervorgekramt. Bevor diese zum Einsatz kommen, werden ein paar Übungen in Sachen Eigen- und Fremdwahrnehmung absolviert. Und die haben es in sich. Denn die Schüler der siebten, achten und neunten Klassen der dem HAU gegenüberliegenden zehnklassigen Hector-Peterson-Schule spielen zunächst mit den Erwartungen ihres Publikums. „Die wollen einen Beitrag zur aktuellen Zuwanderungs- und Islamdebatte sehen“, spekuliert Eren. „Die denken bei mir, ich verkaufe Drogen, weil ich schwarz bin, also braun. Nee, ich bin ein notgeiler Türke. Nee, ich bin deutscher Deutscher. Ich bin euer schlimmster Alptraum“, meint Can. „Ihr denkt, wir leben nur vom Staat und wir kriegen nichts auf die Reihe“, sagt Ibo.

Auch die Lehrer als Autoritäten bekommen ihr Fett weg. „Ihr wollt uns was beibringen und deswegen schreit ihr uns an. Ihr denkt, wenn ihr nicht schreit, dann lernen wir nichts“, konstatiert trocken Kader. „Habt ihr euer Gehirn zu Hause vergessen? Geht mal nach Hause und holt euer Gehirn“, zitiert Ibo aus dem Schulalltag. Und Kader ergänzt: „Ihr Psychopathen! Ihr könnt euch gerade mal drei Minuten konzentrieren!“, um dann zur ultimativen Abwertung zu gelangen: „Ihr Kik-Käufer!“

Im Zuge ihres Projekts mit den Schülern sind die Performer von Turbo Pascal zu einer Absaugstation von Beleidigungen und Demütigungen geworden. „Die Schüler sind an einem Punkt angelangt, an dem ihnen kaum noch jemand etwas zutraut. Ihnen wird gesagt: ‚Das kannst du nicht. Das schaffst du nicht. Du bist dumm.‘ Das demotiviert natürlich und schafft Selbstzweifel“, hat Merkle beobachtet. Das Theaterprojekt ist nicht unbedingt der Zauberstab, der all diese Zweifel und Probleme einfach hinwegwischt. Aber ein paar Effekte gibt es dennoch zu beobachten. „Sie stellen fest, dass es hier um sie geht, dass ihre Probleme im Mittelpunkt stehen und dass ihnen zugehört wird“, meint Merkles Kollege Frank Oberhäußer. Und die Laienschauspieler müssen sich konzentrieren, um einen Text zu lernen. Das ist keine ganz triviale Übung.

Fürs Publikum hält diese Beschwörung einiges bereit. Es wird – in der für beide Seiten sicheren Distanz einer Lautsprecherkabine – mit seinen Vorurteilen und denen der Schüler konfrontiert. Die scheinen erst einmal unüberbrückbar. Doch ein Spiel mit Buchstabenverschiebungen – aus Integration wird erst das den wechselseitigen Aspekt betonende „Intergration“, das schließlich noch mit einem Verniedlichungs-ö zu „Intergratiön“ wird – schafft einen neuen Spielraum. Darin lässt sich leichter vor Augen führen, ob und was man überhaupt noch voneinander will. Das ist schon ziemlich viel für einen Theaterabend. Die Ausflüge, die die freien Gruppen seit einiger mit Schul- und Kinder- und Jugendtheaterprojekten unternehmen – die Kooperation von Showcase Beat Le Mot mit dem Theater an der Parkaue bildete hier den Auftakt –, zeitigt fruchtbare Folgen.

Bei der „Publikumsbeschwörung“ kann man zu guter Letzt sogar noch Zeuge einer Starwerdung werden. Denn Dalia, die Neuntklässlerin mit irakisch-australischem Familienhintergrund, die gegenwärtig auch als Schulsprecherin kandidiert und mit ihrer Klassenkameradin Fatima die Intergratiön kreiert, hat schon bei Tamer Yigits „Böhse Onkelz“-Projekt im HAU mitgemacht, eine Arbeit im Rahmen von „X-Schulen“ mit dem Videokünstler und Regisseur Chris Kondek absolviert und erfolgreich ein Casting bei She She Pop, den aktuellen Göttinnen der Offszene, bestritten. Da geht doch was.

■ HAU2. Am 11. und 15. November um 11 Uhr, am 12. und 13. November um 19 Uhr