Eine Stadt sucht den olympischen Geist

OLYMPIADE Berlin war noch nie ein gutes Pflaster für die Olympischen Spiele: Hitlers Nazifest 1936, das Olympia-2000-Desaster und auch die jetzige Bewerbung sind allesamt fragwürdige Projekte. Ein Befreiungsschlag wie in München 1972 mit seinen „heiteren Spielen“ wird an der Spree wohl nicht gelingen. Oder doch?

Exregierungschef Klaus Wowereit (SPD) warb über 13 Amtsjahre in olympiaverdächtiger Ausdauer für eine Bewerbung:

■ „Falls Spiele nach Deutschland kommen, sollen sie in der Hauptstadt stattfinden.“ (Juli 2001)

■ „Berlin steht bereit für Olympische Spiele.“ (Juni 2004)

■ „Berlin ist an der Ausrichtung interessiert.“ (Juni 2006)

■ „Unbestritten, Hamburg kann Olympische Spiele ausrichten. Unbestritten, München könnte es auch. Unbestritten, Berlin kann es besser.“ (März 2007)

■ „Wir träumen immer noch von den Spielen.“ (Mai 2009)

■ „Berlin ist bereit.“ (Juli 2011)

■ „Berlin ist fit dafür.“ (Juli 2012)

■ „Wir werden die Bewerbung abgeben, aber wir müssen für Akzeptanz sorgen.“ (Juni 2014) (sta)

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Die Olympischen Sommerspiele, so lautete lange Zeit die Botschaft, ist die Zeit des Friedens und der Moderne, der Völkerverständigung und der sportlichen Rekorde. Diese Zeiten sind vorbei, zeichnet sich doch heute für viele der olympische Gedanke aus durch undurchsichtige Vergabepraktiken des IOC, durch Korruption und Kommerz, pures Spektakel oder den politischen Missbrauch der Spiele – wie zuletzt in Peking (2008) oder bei den Winterspielen in Sotschi (2014) zu begutachten war.

Dass durch die Olympischen Spiele zugleich noch immer wirkungsmächtige Bilder generiert werden, wenn Sportler im Stadion zu Helden werden, sich Tragödien der Niederlage abspielen, liegt sowohl am sportlich und medial perfekt inszenierten Geschäftsmodell des Ganzen als auch an den olympischen Idealen. Deren Kraft ist scheinbar nicht totzukriegen. Nur: Warum dies nicht ausreicht, um in Rio de Janeiro, Tokio, Berlin oder Hamburg, Rom oder Boston Olympische Spiele stattfinden zu lassen, das erklärt sich daraus nicht. Schon gar nicht, wenn Sprinter die 100 Meter mittlerweile überall unter 10 Sekunden laufen können. Oder die Olympia-Oberen es nicht mehr schaffen, das Ziel für ein am Sport orientiertes Ereignis zu begründen.

Also werden andere Legitimationsmuster bedient: In Berlin rangiert derzeit die anvisierte Bewerbung für die Sommerspiele 2024 oder 2028 auch nicht als mögliches außergewöhnliches Sportprojekt ganz oben – gewissermaßen als „Blockbuster“ unter den Sportveranstaltungen –, sondern als betriebswirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Größe.

Geteilte Lager in der Stadt

Die Lager in der Stadt teilen sich in die Fraktion der Olympiagegner, die vehement darauf drängt, die ruinösen Sportstätten und Bildungseinrichtungen in den Bezirken zu sanieren und mehr soziale Projekte zu finanzieren statt einen zwei bis fünf Milliarden Euro teuren Olympiazirkus aufzuziehen.

Olympia ist für NOlympia nur Synonym und Symptom einer unwirtschaftlichen, unsozialen Politik, die auf Effekte, Tourismusmarketing, Luxus- und Event-Architektur setzt und nicht auf den nachhaltigen Aufbau der Stadt.

Umgekehrt unterstellt die Fraktion der Olympiabefürworter den Bedenkenträgern eine Art Kleinkrämerei, mit der es keine Kapitale der Welt zu etwas bringen würde. Gleichwohl nicht beabsichtigt sei, „gigantisch“ zu klotzen, wie Berlins Sportsenator Frank Henkel (CDU) argumentiert. Mit einem Investitionsprogramm in Milliardenhöhe sollen die städtischen Infrastrukturen modernisiert, Wohnungen sowie neue, aber auch temporäre Sportstätten geschaffen sowie bestehende Arenen und Sportarchitekturen saniert werden.

Und auch ein neuer Ton soll die Musik machen, der Ton der Partizipation und Erneuerung. Im „Dialog mit der Stadtgesellschaft“ will die Politik die Spiele „gemeinsam mit den Bürgern“ angehen. Mehr noch: „Der Senat will die Spiele nach der neuen IOC-Reformagenda veranstalten“, umreißt der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) die olympische Perspektive für Berlin 2024. „Nachhaltig, vielfältig, demokratisch und realistisch statt gigantisch. Berlin steht bereit für eine Reform-Olympiade.“

Ob sich die Stadt angesichts solch diffuser Olympia-Konturen und -Images samt euphemistischem Vokabular überhaupt erfolgreich für die Bewerbung qualifizieren kann, mag dahingestellt bleiben.

Viel bemerkenswerter ist, dass, statt klare Bilder und Konzepte für Olympische Spiele bereitzuhalten, eher Strategien der Fehlervermeidung, der Zaghaftigkeit eingeschlagen sowie Allerweltsklischees präsentiert werden. Gemessen an den Standards wirklicher Paradigmenwechsel und neuer Leitbilder klingt schon das Motto für Olympia 2024 banal: „Die ganze Welt in unserer Stadt“ könnte auch als Titel für einen Berliner Kirchentag herhalten. Nach „Grand Projets“, nach Mut zu Neuem, Moderne, nach Innovation und gesellschaftlichem Aufbruch hört sich das nicht an. Es ist abstrakt, nebulös, ja zahm. Auf die einfachsten Fragen fehlen die Antworten: Wie sehen solche Reform-Spiele aus? Was ist das Neue? Sind „kleine“ Olympiaden realistisch? Und was sind demokratische Spiele, gibt es diese überhaupt und sind diese beispielhaft für Spiele der Zukunft?

Das ist fatal. Mit Übervorsicht zu navigieren, hat noch nie geradewegs ans Ziel geführt. Doch dass man an der Spree unglücklich bis panisch auf das Thema Olympia reagiert, hat seine Ursachen.

Für Olympische Spiele war Berlin noch nie eine gute Adresse. Nach den Nazi-Spielen von 1936 patzte der Senat 1993 ein anderes Mal, als sich die Stadt für die Ausrichtung des Sportereignisses im Jahr 2000 bewarb. Die Bewerbung scheiterte nicht nur grandios, die Stadt machte sich darüber hinaus lächerlich.

Schuld daran waren eine Reihe von Managementfehlern, größenwahnsinnige Planungen und Kostenexplosionen sowie die Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen, das Zusammenwachsen der beiden Stadthälften als ihre primäre Aufgabe wahrzunehmen. Hinzukamen peinliche Sexdossiers von IOC-Mitgliedern, die Berlin anlegen ließ, und eine überforderte Olympia GmbH samt ihrer vielen Geschäftsführer. Der öffentliche Protest gegen Olympia 2000 war gewaltig, erfolgreich – und Berlin gegen Sydney chancenlos.

Kein Heilmittel gefunden

Die NS-Spiele 1936 und die 2000er Pleite haben den Senat, haben Berliner Olympiaträumer bis dato traumatisiert. Weil für diese Verletzung, für die offenen Wunden noch kein rechtes Heilmittel gefunden worden ist, steht sich der Patient quasi für eine produktive Bewerbung selbst im Weg – daher die neuerliche Bewerbungs-Angstnummer.

Wie man sich in der Republik von den Mythen und Ablagerungen der Geschichte befreit, hat dagegen München mit den Olympischen Sommerspielen 1972 gezeigt: Zum Ursprung der „heiteren Spiele in einem demokratischen Umfeld“ wie Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD) damals sagte, gehörte ein neues bauliches, künstlerisches und organisatorisches Konzept, das als Kontrapunkt zu den Spielen in Berlin 1936 fungierte. Zudem passten die Spiele und ihr poppiges Design in den gesellschaftlichen Kontext von 1968 – in das „Mehr Demokratie wagen“-Deutschland der sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP.

Bemerkenswert ist, dass, statt klare Bilder und Konzepte zu präsentieren, Strategien der Fehlervermeidung, der Zaghaftigkeit eingeschlagen werden

Adolf Hitler und seine Architekten Albert Speer und Werner March hatten 1936 die Olympischen Spiele dagegen als sportiven Reichsparteitag in Berlin inszeniert. Das Olympiastadion inmitten des Reichssportfelds war der Schlüsselbau für die völkische NS-Theatralik während der Spiele.

Zwischen riesigen Kriegerplastiken im Osten und dem westlichen Aufmarschplatz am Maifeld hatte March auf dem Reichssportfeld einen Monumentalbau hochgezogen, der zum baulichen Sinnbild des Faschismus avancierte: Streng, in Reih und Glied, klassisch-gigantisch steht bis heute die Anlage mit dem Stadion am ehemaligen Reichssportfeld. Der Kunsthistoriker Dieter Bartetzko hat die Chiffren der NS-Ideologie des Olympiastadions einmal sehr eindrucksvoll beschrieben: „Das weite Oval der Arena mit den sanft ansteigenden Tribünen unter offenem Himmel, das Außenrund mit seinen Pfeilerfolgen und Umgängen, alles lässt an antike Spiel- und Weihestätten denken. Dass sie auch glanzvolle Verbrämung eines Totenkults war, dass Sport und Wettkampf den Nazis Vorübung für Krieg und Opfertod waren, erkennt man in der düsteren Langemarckhalle, benannt nach den blutjungen Kriegsfreiwilligen, die 1914 in Flandern jubelnd in ein Sperrfeuer rannten.“

Die heiteren Spiele

Als direkter Widerspruch zu der gebauten Disziplin und dem Führerkult, zu Leni Riefenstahls rauschhaften Olympiafilmen und dem steinernen Drill erhob sich dagegen das Münchner Olympiagelände von Günter Behnisch und Frei Otto. Mit dem Konzept bunter Spiele und einem Olympiagelände inmitten der Stadt, das nach dem Ende weitergenutzt werden konnte, hatten Vogel und Willi Daume, Chef des Nationalen Olympischen Komitee (NOK), das IOC – und die Münchner – überzeugt. Bis dato gilt das Olympiastadion von 1972 als grandioses Bauwerk, dessen Besonderheit das unregelmäßig ansteigende Oval mit der schwebeleicht im Halbrund aufgespannten Zeltkonstruktion ist. Es ist gebaute Moderne, ist ein technisch-künstlerisches und mutiges Bild der heiteren Olympiade von 1972, die ausgerechnet von dem Terrorakt, der elf israelische Sportler das Leben kostete, überschattet wurde.

Während man in München die radikale Abkehr von der braunen Vergangenheit vollzogen hat, kommt Berlin scheinbar noch immer nicht davon los, Spiele im Gewand von 1936 und ohne sinnstiftende Zukunftsidee zu planen. Als wäre es eine Klette, haftet das Olympiastadion samt Olympiagelände als die zentrale Sportstätte am Berliner Standortkonzept. Der Entwurf für weitere über den Stadtgrundriss verteilte Sportarenen und für ein peripheres Athletendorf für 18.000 SportlerInnen und Betreuer in Tegel erinnert an frühere „Satellitenspiele“ beziehungsweise Athletenghettos, aber nicht an ein Zusammenspiel von Stadt und Sportlern. Selbst wenn das alles per Mitbestimmung und Konsensdemokratie – Stichwort „demokratische Spiele“ – auf den Weg gebracht würde, ein tiefgreifendes Konzept, das eine wirklich neue Identität von Olympia und Berlin konstituiert, widerspiegeln diese Pläne nicht.

Vor dem Hintergrund, dass es an Rückhalt für das Olympiakonzept 2024 in der Bevölkerung mangelt, wird Berlin darum den Mut aufbringen müssen, einen Ansatz zu wagen, der die Traditionen der Spiele kritisch reflektiert. Dazu braucht man nicht die ganze Stadt auf den Kopf zu stellen. Doch die alten Mauern des Olympiastadions und insbesondere den Geist, der dort haust, muss Berlin hinter sich lassen. Sonst funktioniert der Kunstgriff in Richtung olympische Innovation an der Spree nicht – und jede Form der Zustimmung und Akzeptanz bleibt chancenlos.