Zweimal kräftig inhalieren

NIKOTIN Vorsicht, diese Short Storys können sehr schnell abhängig machen: Der Debütant Stuart Evers erzählt „Zehn Geschichten übers Rauchen“

Es geht um Rauchrituale, ums Verlegenheitsrauchen, ums Lebensgefühlsrauchen, um Fluchtzigaretten und natürlich auch um die berühmte allerletzte Zigarette

VON ULRICH RÜDENAUER

Rauchen gefährdet zwar die Gesundheit, den meisten Romanhelden aber sind solche Erwägungen egal. Was, bitte schön, wäre Zeno Cosini ohne Glimmstängel? Oder Hans Castorp ohne seine geliebte Zigarre der Marke „Maria Mancini“? In der Literatur- und noch mehr in der Filmgeschichte wird gepafft, bis die Köpfe rauchen. Und was der Musiker Kristof Schreuf in feiner Abwandlung eines Chansons von Reinhard Mey singt, trifft auch auf viele nikotinabhängige Autoren zu: „Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarettenfabrik.“ Selbst in gesundheitsbewussten Zeiten, in denen die Fluppe nicht mehr als cool gilt, ist eine Sehnsucht nach der Zigarette vorhanden – nach Rauchfäden, die sich in einem Raum verlieren und eine Geschichte schwebend ausbreiten.

Der beste Beweis ist das Debüt des jungen englischen Autors und ehemaligen Buchhändlers Stuart Evers. „Zehn Geschichten übers Rauchen“ hatte auf der Insel gehörig aufhorchen lassen, und nachdem nun Andrea Fischers gelungene Übersetzung ins Deutsche vorliegt, kann man sich dem Lob freudig anschließen: Das Laster des Rauchens wird in diesen teils klassisch anmutenden, bis in die Nebensätze hinein präzise komponierten Shortstorys zu einem metaphorischen Passepartout. In jeder von Evers’ Erzählungen hat die Zigarette einen mehr oder minder prominenten Auftritt – es geht um Rauchrituale, ums Verlegenheitsrauchen, ums Lebensgefühlsrauchen, um Fluchtzigaretten, um tödliche Zigaretten (sowohl als Tötungsinstrument als auch zur Beschleunigung des eigenen Endes), um verräterische Zigaretten und natürlich auch um die berühmte allerletzte Zigarette, bei der es ja meistens nicht bleibt.

Die Zigarette ist bei Evers aber doch meist weniger Metapher als vielmehr Requisit zur Erzeugung bestimmter Stimmungen. Sie hüllt die am Rande ihrer selbst stehenden Figuren in einen Nebel, in dem Leere, Angst, Einsamkeit, vergehende Jugend und Verlorensein verborgen werden können. Evers’ Texte schneiden zwar durch diesen Nebel, lösen ihn aber nie auf – Geheimnisse bleiben gewahrt, zumindest werden sie nur schemenhaft ans Licht gebracht.

Für die labile Linda ist der Zigarettenrauch eine Schutzschicht, die sich um sie bildet, ein gelber Schleier, hinter dem sie Lachen und Weinen verbergen kann. Konfrontiert mit der bürgerlichen Idylle ihres Bruders und den neugierigen Fragen seiner Frau, möchte sie ihrem verkorksten Dasein einen Schubs in eine neue Richtung geben – und wird auch dank des Nikotins rasch auf die Tristesse ihrer Situation zurückgeworfen.

Du riechst falsch. Hast du aufgehört zu rauchen?

Marty wiederum trauert einer Liebe hinterher und seiner späten Jugend, als er es romantisch fand, mit Angela ein „schäbiges, abgeschottetes Leben“ in einer verrauchten Einzimmerwohnung zu führen. Nach Jahren treffen sie sich wieder. Sie schlafen miteinander, gleichen ihre verlorenen Illusionen ab und stellen ernüchtert und ein wenig traurig fest, dass die Zeit sich nicht mehr zurückdrehen lässt. „Du riechst … keine Ahnung, irgendwie falsch“, sagt Angela. „Hast du aufgehört zu rauchen?“

Es sind solche Begegnungen, in denen die Biografie auf einen kurzen Augenblick zusammenschnurrt und die Bodenlosigkeit der eigenen Träume sichtbar wird. Wo die Geschichten auch spielen, ob in Swindon oder in einem Vorort von London, ob ein todgeweihter Autor, in dem man Evers’ Vorbild Raymond Carver erkennen kann, an Krebs sterbend, seine letzten Tage in Reno verbringt oder ein Partygast in Las Vegas in eine fast surreale Szenerie gerät – immer ist da eine Atmosphäre der Vergeblichkeit und Vergänglichkeit, die gleichwohl in homöopathischem Maße Trost bereithält.

Evers hat wie jeder gute Shortstoryautor die Fähigkeit, durch Andeutungen Bedeutung und durch Weglassen überbordende Fülle zu schaffen. Es sind Texte, die Sehnsucht und Verzweiflung zugleich zum Klingen bringen; und sie verfügen, auch wenn Evers nicht bei allen zehn Geschichten das meisterliche Niveau seiner besten Storys halten kann, stets über wunderbare erste Sätze. Für eine Erzählung, die keinen langen Atem braucht, aber ein, zwei kräftig inhalierte Ideen, sind erste Sätze so wichtig wie die eröffnenden Takte zu einem guten Dreiminutensong.

Der erste Satz entzündet die Neugier; er ist der Funke, aus dem sich alles Weitere entwickelt: „David Falmer konnte sich nicht darauf festlegen, wann genau ihm Johns Junggesellenabschied aus den Händen geglitten war; er wusste nur, dass es längst passiert war, als das Gespräch auf Nutten kam.“ Oder nüchtern und knapp: „Meine Habseligkeiten nahmen im Umzugskarton nicht viel Platz ein.“ Ein Talent für Lakonik und Genauigkeit verbindet den 35-jährigen Stuart Evers mit den bedeutenden Autoren des Genres. Man kann von seinen Geschichten übers Rauchen abhängig werden.

Stuart Evers: „Zehn Geschichten übers Rauchen“. Aus dem Englischen von Andrea Fischer. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2011, 192 Seiten, 19,90 Euro