Susanne Stiefel
: Zu große Schuhe

Es war für viele der Aufreger der letzten Ausgabe: das Kontext-Gipfelgespräch mit Anna Katharina Hahn auf dem Dach des Linden-Museums. Es ging um schwäbische Bürgerlichkeit, um Erotik und das richtige Leben im Kapitalismus. Und es ging – auch – um Stuttgart 21. Zum ersten Mal hat sich die Stuttgarter Schriftstellerin zum Stuttgarter Bahnhofsprojekt geäußert. Sie tat dies nachdenklich und durchaus kritisch. Es war vor allem ein Satz, der viele S-21-Gegner provozierte. „Was da an Kraft und Energie für diesen Bahnhof kanalisiert wird!“, sagte Anna Katharina Hahn im Interview, „das hat mich fasziniert und gleichzeitig geärgert. Da stand dann Taliban, Platz des Himmlischen Friedens, Montagsdemo, und das halte ich für zu große Schuhe.“

Schon war das Gipfelgespräch Tagesgespräch bei den Parkschützern, und wir von Kontext haben uns gefreut. So soll es sein.

Munter und meist differenziert wurde diskutiert über die Aussagen der Schriftstellerin. Um dann die Rolle von Kontext unter die Lupe zu nehmen. Manche „kapieren nicht, was Kontext eigentlich im Schilde führt“, und wollen uns wie Welt und Focus nicht mehr lesen. „Wenn Sie Welt und Focus mit Kontext vergleichen, sollten Sie sich fragen, ob Sie nur noch Schwarz und Rot sehen und keine Töne dazwischen erkennen können“, verteidigen andere die Unabhängigkeit unserer Online-Zeitung. Vielen Dank, da fühlen wir uns verstanden.

Wir nehmen uns die Freiheit, Personen zu Wort kommen zu lassen, die den Mut haben, auch mal quer zu denken. Die nicht immer unserer Meinung sind. Die gerne auch mal provozieren. Anna Katharina Hahn ist aus der Reihe der Stuttgarter Schriftsteller getanzt. Sie hat die Romantik des Protests betont, die Sehnsucht nach Gemeinschaft, die Verehrung der Bäume. Und sie hat es gewagt zu sagen, dass sie das auch manchmal ärgert. Übrigens durchaus differenziert. Das muss erlaubt sein. Gerade in der oft vertunnelt geführten S-21-Debatte.

Dass Freiheit immer die Freiheit der Andersdenken ist: dieser Satz von Rosa Luxemburg wird zu solchen Anlässen immer gerne bemüht. Dass andere Meinungen belebend und heilsam sein können, wird zu Recht betont. Dennoch möchte ich hier lieber den Schriftsteller und Journalisten Mark Twain zitieren, dessen selbstkritisches Augenzwinkern mir gut gefällt: „Wir lieben die Menschen, die frischen Herzens sagen, was sie denken. Vorausgesetzt, sie sagen dasselbe wie wir.“