Tod als letzter Ausweg

Jahrelang tyrannisierte Gürsel T. seine Familie: Frau und Töchter sprach er mit „Hure“ an, er schlug zu und bedrohte alle mit dem Tod. Dann erstach der Sohn den Vater. Im Prozess ringen die Beteiligten um juristische Wege, die eine Strafe jenseits der lebenslänglichen Haft eröffnen können

VON ELKE SPANNER

Alle Angehörigen des Opfers sind da: Ehefrau, Kinder, Geschwister. Doch es ist keine Trauergemeinde, die sich im Saal 337 des Hamburger Landgerichtes versammelt hat. Die Stimmung auf den Zuschauerbänken ist gut. Man scherzt, harrt der nächsten Zeugen in einer Spannung, als erwarte man ein wichtiges Fußballspiel, und winkt dem Angeklagten lächelnd zu. Dabei steht außer Frage, dass er Gürsel T. getötet hat – 31 Messerstiche in Kopf, Rumpf, Arme und Beine hat die Polizei gezählt. Dennoch gelten die Sympathien hier nicht dem Opfer, das bei der Attacke sein Leben verlor. Sie gelten dem jungen Mann, der den Familienvater erstochen hat. Es ist sein Sohn.

Gökhan T. ist nervös, als er seine Aussage macht. Es ist nicht die Angst vor der Strafe, die ihm immer wieder kurz den Mut zum Weitersprechen nimmt. An seiner Tat gibt es nichts zu beschönigen, und Gökhan T. steht dazu. Doch jetzt, endlich, kann und soll er über all das sprechen, was seine Familie erlitten hat. Was sich innerhalb der eigenen Wohnung abspielte, Tag für Tag, und was die Bekannten rundum wohl ahnten, aber niemals zur Sprache brachten.

Der Bruder der Ehefrau, Aslan T., lebte mit seiner Familie in der Wohnung direkt darüber. Er wusste, dass es zwischen seiner Schwester und ihrem Mann Probleme gab, „wie in jeder Familie“. Er selbst kannte seinen Schwager als ausgesprochen aggressiv, „man musste ihm immer Recht geben, sonst hat er zugeschlagen“. Darüber gesprochen aber hat er mit seiner Schwester nie, und auch sie habe ihr Martyrium nie zur Sprache gebracht. „Sie hatte Angst, dass ich mich mit ihm anlege und die Situation noch hochschraube.“

Anteilnahme erfuhr die Familie erst, als Gökhan T. es eines Tages nicht mehr ausgehalten hat. Wieder war der Vater betrunken. Wieder hat er seine Frau bepöbelt und der Tochter angekündigt, er werde sie aufschlitzen, wenn sie sich nicht sofort „verpisst“. Der 21-Jährige hörte den kleinen Bruder weinen, dass er sich umbringen will. Da hat er sich seinen Wecker gestellt. Um 4.45 Uhr am nächsten Morgen, dem 20. Juni, ist er aufgestanden, in die Küche gegangen, hat ein Messer gepackt, ist ans Bett des Vaters getreten und hat dem Schlafenden die Klinge in den Kopf gerammt, rechte Seite, kurz hinter dem Ohr.

Gökhans Mutter ist eine zierliche Frau mit leicht angegrautem Haar. Ihren Mann hat sie sich nicht ausgesucht. Die Ehe wurde zwischen den beiden Vätern ausgehandelt, als sie 19 Jahre alt war. Zunächst ging es gut, „zwei, drei Jahre verstanden wir uns einigermaßen“.

Doch Gürsel T. war sehr aggressiv. Und er trank immer mehr Alkohol, das heizte seine schlechte Laune zusätzlich an. Alle mussten sich nach ihm richten, doch recht machen konnte man ihm nichts. Er schmiss das Essen zu Boden, wenn es ihm nicht gut genug schmeckte. Er schlug zu, wenn der Sohn ein Widerwort wagte. Er höhnte: „Bist du ein Weib?“, wenn Gökhan seiner Mutter im Haushalt half. Seine Frau sprach er nie mit ihrem Vornamen an. „Mein erster Name war Nutte, mein zweiter Hund, mein dritter Schlampe, mein vierter Hure“, erzählte sie vor Gericht: „Das Leben, das ich hatte, war nur Folter.“

Die Familie war tief gespalten: Der übermächtige Vater auf der einen Seite, die Mutter und die vier Kinder auf der anderen. „Wir müssen da durch, wir müssen damit leben“, hat die Mutter immer wieder zu Gökhan und seinen Geschwistern gesagt. Den Vater zu verlassen, sei nicht möglich gewesen, sagt der 21-Jährige: „Er hätte uns gesucht und umgebracht.“

Gökhan war der älteste Sohn und dadurch für diesen Teil der Familie das Oberhaupt. Er fühlte sich verantwortlich für die Mutter und Geschwister. „Er liebt seine Mutter über alles“, sagte deren Bruder Aslan T.: „Er wollte seiner Familie die Liebe und Zuneigung geben, die der Vater nie gegeben hat.“

So fegte er das Essen auf, das der Vater im Suff zu Boden geschmettert hatte, und ließ sich von ihm dafür beschimpfen. Er tröstete den jüngeren Bruder, wenn der sich in den Schlaf weinte. Und immer stand er der Mutter bei, wo er nur konnte. Unter jedem Schlag, den sie einsteckte, litt auch er. Und es waren viele Schläge im Laufe der Jahre, Schläge, Demütigungen, Drohungen. Die Bedrohung der Schwester am Abend vor der Tat dann, sagte der psychiatrische Sachverständige, war die eine Situation zu viel. Es war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, oder, medizinisch gesprochen: Gökhan handelte in einer „mittelgradig akuten Belastungssituation“, sagte der psychiatrische Sachverständige, in einem „affektiv aufgestauten Zustand“.

Inwieweit die Vorgeschichte die Strafe mindern kann, ist das große Problem dieses Falles. Es ist eine Frage, die alle Beteiligten umtreibt, denn auf Mord steht lebenslange Haft. Und Gökhan hat auf sein schlafendes Opfer eingestochen, das ist ein klassisch heimtückischer Mordversuch. Er hat auch nicht im Affekt gehandelt, in unmittelbarer Reaktion auf die väterliche Gewalt, sondern sich für den nächsten Morgen den Wecker gestellt. Als der Vater dann vom ersten Messerstich aufwachte, aufsprang und sich zu wehren versuchte, kam es zwischen den beiden Männern zum verzweifelten Kampf. Die Geschwister wachten auf, schrien, wollten Hilfe holen, als der Vater schließlich, nach zahlreichen weiteren Stichen, blutüberströmt auf dem Bett zusammenbrach. Doch Gökhan hielt sie davon ab. „Ich wusste, wenn mein Vater überlebt, bringt er uns um.“

Das sind Merkmale einer bewussten, geplanten Tat, und das ist für alle Prozessbeteiligten ein großes Problem. Gökhan sagt, er habe für seine Familie keinen anderen Ausweg aus dem Martyrium gesehen. Der sachverständige Psychiater bestätigt, Gökhan sei vollkommen eingeengt gewesen auf den Eindruck, dass es keine andere Lösung als den Tod des Vaters gegeben hätte. Er hätte sich niemanden außerhalb der Familie anvertrauen können, aus tiefer Überzeugung, dass der Vater dann einen Ehrenmord an einem Mitglied der Familie begehen werde. „Er hat absolut fest damit gerechnet, dass der Tod eines Familienmitgliedes am Ende stehen wird.“

Für seine Anwältin Gabriele Heinecke liegt dadurch ein „entschuldigender Notstand vor“, wie es juristisch heißt: Sie hat beantragt, einen weiteren Sachverständigen anzuhören, der Auskunft darüber geben könne, dass vor dem kulturellen Hintergrund der Familie die Tötung des Vaters tatsächlich als einzige Lösung erschien. Den Antrag aber hat das Gericht abgelehnt. Infrage käme noch eine Strafmilderung durch die psychische Verfassung, in der Gökhan im Moment des Zustechens war. Diesen Weg hat der psychiatrische Sachverständige eröffnet, der diagnostizierte, eine Minderung von Gökhans Steuerungsfähigkeit sei „nicht auszuschließen“.

Gleich, wie lange der 21-Jährige im Gefängnis sein wird: Seine Familie steht zu ihm. Wer auf der Zuschauerbank ein Lächeln des Angeklagten erhascht, dreht sich stolz zu den übrigen Familienmitgliedern um. Auch der Chef der Kfz-Werkstatt, bei dem Gökhan eine Ausbildung zum Mechatroniker machte, sieht in ihm keinen Mörder, sondern einen jungen Mann, mit dem er stets hochzufrieden war. Er hat versprochen, ihn wieder in seiner Werkstatt zu beschäftigen, wenn Gökhan eines Tages aus dem Gefängnis kommt.