In den Himmel schauen

Ein Naturwissenschaftler als Künstler: Horst Bredekamps großartige Inszenierung der astronomischen Entdeckungen Galileo Galileis

VON ALEXANDER CAMMANN

Ihre Gräber sind nur einige Schritte voneinander entfernt. Die Gebeine Michelangelos und Galileis ruhen in der Kirche Santa Croce in Florenz. Nah waren die beiden epochalen Gestalten einander ohnehin, zumindest in den Augen vieler Zeitgenossen. Da am 18. Februar 1564 der Tod Michelangelos angeblich mit der – nicht eindeutig datierbaren – Geburt Galileis zusammenfiel, imaginierten die Galilei-Verehrer nach dessen Tod 1642 alsbald eine Seelenwanderung vom größten Maler, Bildhauer und Architekten hin zum bedeutendsten Mathematiker und Astronomen jener Zeit.

Es ist ja keineswegs nur ein altväterliches Klischee, dass die anderthalb Jahrhunderte, die beider Lebensspanne umschließt, die Welt umstürzten wie keine andere Ära sonst. Mit Kopernikus und Mona Lisa, Luther und Descartes, zwischen der Entdeckung Amerikas, dem Dreißigjährigen Krieg und der englischen Revolution: Auch wenn sie es nicht mehr so recht zu spüren vermag, reicht unsere Gegenwart immer noch hinab in jenes historische Wurzelgeflecht. Glaube, Wissen und Kunst waren damals heftig umkämpft und wurden hitzig brodelnd neu gemixt, Raum und Zeit durcheinandergewirbelt – und mittendrin Galileo Galilei. Er entstammt jener zergliederten italienischen Kulturlandschaft, deren produktive Fülle jener Jahrzehnte bis heute so erstaunt und die den Begriff „Renaissance“ seit Jacob Burckhardt anschaulich macht.

Um Anschauung geht es im Werk des Naturwissenschaftlers Galilei, der als einer der ersten ein Fernrohr auf dem Mond richtete, vier Jupitermonde entdeckte, Sonnenflecken beobachtete, physikalische Fallgesetze aufstellte, als Vertreter des kopernikanischen Weltbilds von der Inquisition verfolgt wurde und, bedroht von der Macht, wider besseres Wissen abschwor. Sein Drama des modernen Intellektuellen hat Bertolt Brecht dramatisiert.

Doch Anschauung gilt im Falle Galileis in einem weitaus ursprünglicheren Sinne. Schon sein erster Biograf berichtete 1654: „Er betätigte sich mit großem Vergnügen und mit wunderbarem Erfolg in der Zeichenkunst, in der er ein so großes Genie und Talent hatte“; in jungen Jahren wäre er am liebsten Maler geworden. Der Wissenschaftler Galilei war nur möglich durch den Künstler Galilei: Diese Einsicht führt Horst Bredekamp in seiner Studie „Galilei der Künstler“ vor, die über weite Strecken selbst ein atemberaubendes Abenteuer der Erkenntnis ist.

Bredekamp, einer der renommiertesten und wirkmächtigsten Geisteswissenschaftler hierzulande, lehrt seit 1993 Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität in Berlin, forschte in Princeton und am Getty Center in Los Angeles, ist – seltene Ehre – Permanent Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg und erhielt den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Rastlos arbeitet er an der Erweiterung der Kunstgeschichte zu einer Bildwissenschaft als neuer Leitwissenschaft unseres visuellen Zeitalters. Herkömmliche Disziplingrenzen löst er auf; mit imperialem Gestus wird alles integriert. Wer beispielsweise die hochkarätig besetzte Festschrift zu Bredekamps 60. Geburtstag durchblättert, bekommt eine Ahnung von der intellektuellen Spannbreite seiner Karriere, die 1975 mit einer marxistischen Dissertation über „Kunst als Medium sozialer Konflikte“ begonnen hatte.

Im Mittelpunkt seiner Interessen standen zuletzt die visuellen Denkformen in der Frühen Neuzeit. So untersuchte er die politische Ikonografie von Thomas Hobbes’ „Leviathan“ (1999/2006) sowie die Leibniz’schen Idee eines Theaters von Natur und Kunst (2004). Mit der Galilei-Studie liegt das „Bredekamp-Projekt“ jetzt als Trilogie vollendet vor.

Das ästhetisch geprägte Denken Galileis war bereits 1954 Erwin Panofsky aufgefallen, einer der Heroengestalten unter den Kunsthistorikern des 20. Jahrhunderts. Bredekamps Perspektive ist nunmehr zu einem wissenschaftsgeschichtlichen Panoramablick auf Galileis Welt um 1600 geworden, eine Materialschlacht aus immensen Kenntnissen, zahlreichen Bildern und Briefstellen. Digitale Bildanalyse wird ebenso betrieben wie die Auswertung von Galileis Einkaufszetteln. Ausgebildet an der Florentiner „Akademie der Zeichnung“, kann man die Begabung des Mathematikprofessors Galilei anhand von Skizzen für Festungsbauten erkennen. Nebenbei hingeworfene Miniaturen finden sich auf ansonsten mit Berechnungen übersäten Blättern des Meisters. Er beteiligt sich in Traktaten an den literatur- und kunsttheoretischen Debatten seiner Zeit. Lebenslang hält die oft zur Arbeitsgemeinschaft mutierende Freundschaft mit dem Maler Lodovico Cigoli; er wird später zum aktiven Förderer von Künstlerinnen wie Artemisia Gentileschi und Anna Maria Vaiani.

Doch der Künstler Galilei hat seinen Auftritt, nachdem er in den Himmel schaute. Die Augen vieler richteten sich damals auf Mond und Sonne, mit Hilfe des neu erfundenen Teleskops. Aber die künstlerisch ungeschulten Pioniere sahen im Mond allenfalls „eine Torte, die mir mein Koch in der letzten Woche machte“, wie Bredekamp einen englischen Beobachter zitiert. Anders der in Perspektivik erfahrene Galilei, nachdem er sich rasch ein starkes Teleskop selbst gebaut hatte: Schon bei seinen ersten Beobachtungen Anfang 1610 erkannte er bei der Betrachtung der Mondphasen in den Schattierungen („wie der Schwanz eines Pfaus mit dunkelblauen Augen“) die Unebenheiten des Mondes. In panischer Hast, „gleichsam mit Lichtgeschwindigkeit“, publizierte er alles innerhalb weniger Wochen: eine Schilderung seiner Beobachtungen und fünf Stiche einer Mondserie, die die Astronomie revolutionierten.

Bredekamp kann sogar mit einer besonderen Entdeckung aufwarten: Anhand eines bislang unbekannten, in einem New Yorker Antiquariat entdeckten Exemplars mit Tuschezeichnungen Galileis anstelle der Stiche führt er künstlerische „Präzision und Wildheit“ des Meisters vor. Licht- und Schattenverteilung anderer Mondansichten Galileis erinnerten an Tiepolo und Turner.

Ähnlich spannende Detektivarbeit leistet Bredekamp anlässlich der erstmaligen Beobachtung von Sonnenflecken durch Galilei 1612. Wieder tauchen die herausragenden zeichnerischen Fähigkeiten und der selbstbewusste Ehrgeiz Galileis auf. Mit feinsten Federstrichen und -punkten kann der die unscharfen Flecken darstellen und damit als zur Sonne gehörig kennzeichnen: ein „Endgericht“ (Galilei) über die aristotelische Philosophie, die an die göttliche Reinheit der Sonne glaubt. Seine Konkurrenten interpretieren die Flecken als eigene Himmelskörper vor der Sonne; ihnen fehlt die visuelle Erfahrung. Künstlerische Begabung ermöglicht wissenschaftliche Einsicht, wie der begeisterte Bredekamp mit einem Hang zur Überwältigungsästhetik stets aufs Neue vorführt: „Der Stil war ein Erkenntnisträger geradezu kosmischen Ausmaßes geworden.“

Sein eigenes Grabmal wie Michelangelo erhielt der tote Galilei übrigens erst im 18. Jahrhundert. Der Verfemte war 1642 von seiner Familie in vorsichtiger Zurückhaltung zunächst in einer abseits gelegenen Kapelle unter dem Glockenturm von Santa Croce bestattet worden. Doch das Zeitalter der Glaubenskämpfe entschwand allmählich und die päpstliche Macht wurde schwächer. 1737 schließlich transferierte man Galileis Gebeine feierlich ins linke Seitenschiff, dabei in Tag und Uhrzeit der Beisetzung Michelangelos folgend. „Fünfundneunzig Jahre nach seinem Tod und einhundertvier Jahre, nachdem er von der Inquisition verurteilt worden war, wurde ihm ein Monument gewidmet“, rechnet Bredekamp angesichts des hier errichteten Grabmals. Er wiederum hat zweihundertsiebzig Jahre später erneut ein Monument für das Genie Galileis geschaffen – oder vielmehr ein Fernrohr, mit der das Auge des Betrachters den nicht ganz so hell strahlenden Galilei am Künstlerhimmel zwischen den Fixsternen Michelangelo, Botticelli und Leonardo da Vinci entdecken kann? Wie auch immer: Horst Bredekamp hat sich mit dieser Schöpfung selbst als ein Künstler erwiesen.

Horst Bredekamp: „Galilei der Künstler“. Der Mond. Die Sonne. Die Hand. Akademie Verlag, Berlin 2007, 517 Seiten, 44,80 €ĽBILD/GESCHICHTE. Festschrift für Horst Bredekamp, hg. v. Philine Helas u. a., Akademie Verlag, Berlin 2007, 588 Seiten