Die Verbrecherbande in seinem Kopf

PSYCHE Die Stimmen, die nur Rolf Fahrenkrog-Petersen hört, sind für ihn real – der Verein NESt nimmt das ernst

„Ich sehe mich nicht als Kotherapeutin, eher als Partnerin“

EINZELFALLHELFERIN REGINA WEIS

VON ZOÉ SONA

Rolf Fahrenkrog-Petersen hört Stimmen. Ununterbrochen reden sie auf ihn ein. Beschimpfen und bedrohen ihn, verschwören sich gegen ihn, verfolgen ihn. Kein Tag, an dem er sich nicht mit ihnen auseinandersetzen muss, ob er will oder nicht.

Rolf Fahrenkrog-Petersen nennt sie „die Verbrecherbande“, weil sie ihm einreden wollen, sie hätten Drogen oder andere verbotene Dinge in seiner Wohnung deponiert und würden die Polizei informieren. Einmal haben sie ihm weisgemacht, sie hätten einen Mörder angeheuert, um ihn auszulöschen. So haben ihn die Stimmen schon tagelang durch die Stadt getrieben oder dazu gebracht, sich stundenlang auf einem Baum zu verstecken. „Jetzt“, erzählt er mit ruhiger Stimme, „haben sie mir angekündigt, dass sie mich bis Weihnachten fertigmachen wollen.“

Die Stimmen sind „nur“ in seinem Kopf, und doch gibt es kein Mittel gegen sie: Keine Musik kann sie übertönen, kein Medikament zum Verstummen bringen. Manchmal treten sie in den Hintergrund, wenn Fahrenkrog-Petersen sich konzentriert unterhält oder seiner Kunst widmet. Der 55-Jährige mit den lebendigen Augen malt und töpfert seit Jahren, um sich mit sich selbst und den Stimmen auseinanderzusetzen.

Medikamente nimmt Fahrenkrog-Petersen nur sehr selten, in Notfällen. Sie könnten die Stimmen sowieso nie vertreiben, berichtet er. Stattdessen macht er eine Traumatherapie und wird von zwei Einzelfallhelferinnen aus dem Verein Netzwerk Stimmenhören (NeSt) betreut. Mehrmals in der Woche treffen sie sich mit ihm, um mit ihm über die Stimmen zu reden, aber auch über seine Beziehungen, über seinen Alltag, Politik und Geschichte. „Ich sehe mich nicht als Kotherapeutin, eher als Partnerin“, beschreibt Regina Weis, eine der beiden, ihr Verhältnis. Wichtig für den Umgang miteinander ist es, den Stimmenhörenden nicht als krank und die Stimmen nicht als Halluzination abzuschreiben, sondern als einen Teil seiner subjektiven Realität anzuerkennen. „Wenn Stimmenhörende verstehen, warum sie die Stimmen hören, kann auch deren Charakter verändert werden“, erklärt Weis.

Rolf Fahrenkrog-Petersen erzählt, dass er zwischen all den Stimmen auch eine hört, die ihn verteidigt. Noch werde sie von den anderen übertönt, doch für ihn wäre es ein Fortschritt, sie zu stärken und so das Verhältnis von negativer und positiver Wahrnehmung zu verschieben. Sein künstlerisches Schaffen könnte ihm den Weg eröffnen.

Durch die Kunst hat sein Leben schon einmal eine gute Wendung genommen. Der Berliner hatte eine schwere Kindheit und Jugend, wurde missbraucht, von den Eltern geprügelt, von einem Heim ins nächste abgeschoben. Er versuchte sich zu wehren und konnte immer wieder fliehen.

Das alles half nichts. Letztendlich landete Fahrenkrog-Petersen wieder in Berlin, fing an zu trinken, lebte auf der Straße. Als er begann, kleine Sketche am Kottbusser Tor aufzuführen, wurde er als Schauspieler entdeckt und feierte später bei der Obdachlosentruppe Ratten 07 Erfolge. Sein Talent brachte ihm Rollen in den Filmen „Männerpension“ und „Nachtgestalten“ und sogar eine Oscar-Nominierung für einen Kurzfilm ein.

Um sich das Warten zwischen den Auftritten zu vertreiben, suchte er eine Beschäftigung und fand sie: „Während die anderen gesoffen und gekokst haben, hab ich gehäkelt“, erzählt er mit verschmitztem Blick. Auch damit hatte er Erfolg: Vom Straßenverkauf am Hackeschen Markt wurde er für eine Modemesse gebucht und konnte sich anschließend kaum vor Aufträgen retten. Seine neue Berühmtheit brachte ihm immer wieder Auftritte im Theater und in Talkshows ein. Bis er eines Tages ausgebrannt zusammenbrach. Er zog sich völlig zurück, und in der neuen Einsamkeit kamen die Stimmen.

Mit den Stimmen arbeiten

Seine psychotische Reaktion zwang ihn zu Klinikaufenthalten, die ihm aber nicht halfen. Er sei nur mit Medikamenten ruhig gestellt worden, berichtet er. Schließlich brachten ihn FreundInnen ins Weglaufhaus „Villa Stöckle“, eine Einrichtung zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt, wo er von NeSt erfuhr. In der Beratungsstelle arbeitete man nicht gegen, sondern mit seinen Stimmen und akzeptierte seine Erklärungsmodelle.

Der „trialogische“ Ansatz von NeSt stellt Stimmenhörenden, die hier als „ExpertInnen durch Erfahrung“ bezeichnet werden, auf gleiche Stufe mit MitarbeiterInnen des psychiatrischen Sytems, sogenannten ExpertInnen durch Beruf, und Angehörigen, „ExpertInnen durch Begleitung“. Sie alle bringen ihr Wissen in einen Austauschprozess ein. So soll sichergestellt werden, dass die Stimmen nicht auf eindimensionale Weise verdrängt werden, sondern eine tief greifende Auseinandersetzung mit ihren Ursachen stattfindet.

Das größte Problem für Stimmenhörende ist laut ExpertInnen die Weigerung der Psychiatrie, sich mit den Stimmen zu beschäftigen. „Das größte Hemmnis ist die Angst der Professionellen vor den ungewöhnlichen Phänomenen der KlientInnen. Das zweitgrößte ist die Angst der KlientInnen, ihre BetreuerInnen damit zu überfordern“, berichtet Caroline von Taysen, Rolfs zweite Einzelfallhelferin.

Auch die Charité sieht das Stimmenhören als biologische Erkrankung an, die vorwiegend medikamentös behandelt wird, wie Andres Neuhaus, stellvertretender Leiter der Abteilung für schizophrene Erkrankungen erklärt. Dem wirkt NeSt entgegen, indem es ExpertInnen durch Erfahrung und ExpertInnen durch Begleitung gleichberechtigt in seine Arbeit einbezieht.

■ Am 21. und 22. Oktober veranstaltet NeSt im Rathaus Neukölln einen Kongress zum Thema Stimmenhören. Rolf Fahrenkrog-Petersen leitet dort einen Workshop zum Umgang mit Vorurteilen. Mehr Informationen unter: www.stimmenhoeren.de/kongress.htm