„Die sitzen alle im Gefängnis“

UNTERGRUND ODER OPPOSITION Noch ehe der Ägyptische Machthaber Husni Mubarak gestürzt wurde, traf Annette Ranko auf die Führungsriege der Muslimbruderschaft. Mit der islamistischen Bewegung befasst sich die Hamburger Wissenschaftlerin schon seit Jahren

■ 34, studierte Arabisch, Französisch, Neugriechisch und Kulturwirtschaft. Sie absolvierte ein Masterstudium in London. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Giga Institut für Nahoststudien in Hamburg, wo sie auch an der Universität lehrt. Ihre Schwerpunkte sind politischer Islam, transnationale Salafiyya und die Muslimbruderschaft.

■ Zwischen 2008 und 2012 reiste sie wiederholt nach Ägypten. Ihre Dissertation erhielt 2012 mit dem Deutschen Studienpreis.

■ Annette Ranko: „Die Muslimbruderschaft: Porträt einer mächtigen Verbindung“, Edition Körber-Stiftung, 2014, 164 S., 14 Euro

INTERVIEW MAI-BRITT WULF

taz: Frau Ranko, was finden Sie bedeutend an der Muslimbruderschaft?

Annette Ranko: Die Muslimbruderschaft war unter Mubarak eine der stärksten Oppositionsbewegungen in Ägypten. Innerhalb der kurzen Phase nach Mubaraks Sturz hat sie es sogar bis an die Macht geschafft. Jedoch sind die Muslimbrüder keine einheitliche Bewegung. In der Region gelten sie als Mutterbewegung aller islamistischen Bewegungen. Es bildeten sich früh Ableger in verschiedenen arabischen Staaten, aber auch in der EU und den USA. Von diesen Ablegern haben sich auch Individuen und Gruppierungen abgespalten, die sich radikalisiert haben.

Warum haben Sie die Muslimbrüder als Forschungsprojekt gewählt?

Als ich in Kairo Politikwissenschaft studierte, war ich im Studentenwerk aktiv. So kam ich mit ägyptischen Studenten in Kontakt. Es war eine Zeit des Aufbruchs. Viele dieser Studenten wurden zu dieser Zeit politisiert. Die Protestbewegung, die in den Demonstrationen von 2011 münden sollte, war gerade im Entstehen. Damals hat mich besonders fasziniert, wie die illegale Muslimbruderschaft eine der stärksten Kräfte dieser Anti-Mubarak-Bewegung werden konnte. Mich interessierte der Autoritarismus und wie die Opposition in solch einem übermächtigen System funktioniert.

Wie sind Sie in Kontakt mit den Muslimbrüdern gekommen?

Ich traf überwiegend auf linke und liberale Studenten. Sie kooperierten später mit den Islamisten und Muslimbrüdern. Manche vermittelten mich an Muslimbrüder weiter. Andere Kontakte konnte ich über deutsche oder ägyptische Wissenschaftler knüpfen. Sie forschten über die Muslimbrüder, als diese verboten waren.

War das nicht gefährlich?

Unter Mubarak waren die Muslimbrüder wie eine Mischung aus einer Untergrundbewegung und einer de facto legalen Opposition. Sie saßen zwar mit dem größten Block im Parlament, gleichzeitig aber hatte ihr Hauptquartier damals kein Namensschild an der Tür. Kurz vor Mubaraks Sturz geriet ich in eine Welle der Verhaftungen von Führungskadern. Damals durfte ich dann Adressen und Kontaktdaten nicht mehr aufschreiben. Viele Interviewpartner sprangen mir plötzlich ab. Gespräche kamen nur noch über sehr gute Kontakte zustande.

Welche einflussreichen Muslimbrüder trafen Sie denn?

Ich führte die Interviews vor Mubaraks Sturz. Als ich die Mitglieder traf, waren sie noch nicht so bedeutende Politiker, wie sie es nach Mubaraks Sturz werden sollten. Ich habe beispielsweise mit Saad al-Katatni gesprochen, der dann 2012 Parlamentspräsident werden sollte.

Fiel Ihnen etwas Besonderes auf im Umgang mit den Muslimbrüdern?

Es war im Großen und Ganzen nicht anders, als mit anderen Oppositionellen und Ägyptern zu sprechen. Viele Ägypter sind religiös. Da kommt es im Gespräch auch auf kulturelle Feinheiten an: Wie ist man gekleidet? Sitzt man anständig da? Die Gespräche mit den Muslimbrüdern waren aber meistens sehr professionell. Viele waren Politiker, die jahrelang im Parlament aktiv waren. Sie waren geschult im Umgang mit Medien und „Westlern“.

Aber Sie kamen doch als Wissenschaftlerin zu ihnen.

Genau. Deswegen konnte ich einen anderen Zugang zu den Muslimbrüdern gewinnen als ein Journalist mit Übersetzer. Ich stellte andere Fragen, weil ich ihre programmatischen Schriften studiert hatte. Außerdem half mir, dass ich die Interviews ohne Übersetzer auf Arabisch führte.

In Berichten über Sie wird häufig der vermeintliche Gegensatz hervorgehoben, dass Sie eine junge Frau aus dem Westen sind, die über die Muslimbrüder forscht. Stört Sie das?

Das ist für mich kein Gegensatz. Aber ich finde die Frage berechtigt. 90 Prozent der Islamisten haben ein anderes Frauenbild als das hiesige. Die Muslimbrüder wollen die persönlichen Freiheitsrechte von Frauen einschränken. Sie sind stolz auf ihr Frauenbild und der Meinung, dass es Frauen im Westen viel schlechter geht. Diese Ansichten haben sie auch in meinen Interviews sehr offen kundgetan.

Also fanden die Muslimbrüder es nicht verwunderlich, dass ihnen eine junge Forscherin gegenüber saß.

Es wurde nicht weiter thematisiert. Es gibt auch ägyptische Forscherinnen, die die Bewegung ebenfalls untersuchen. Das Frau-Sein hingegen ist leider ein Thema, wenn man sich auf der Straße bewegt. In den Medien wurde die vergangenen Jahre viel über die sexuelle Belästigung von Frauen auf Ägyptens Straßen berichtet. Das ist leider ein großes gesellschaftliches Problem, welches sich nicht auf bestimmte Kreise beschränken lässt.

Wie schätzen Sie die Situation der Muslimbrüder gegenwärtig ein?

Ihr Ansehen ist völlig demontiert. Die Partei wurde wieder verboten. Zahlreiche Muslimbrüder wurden verhaftet und zum Tode verurteilt. Sie haben nicht nur ihre Machtposition verloren, sondern werden vom politischen Prozess ausgeschlossen und wieder in den Untergrund gedrängt. Zudem richten sich große Teile der Bevölkerung gegen die Muslimbruderschaft. Es bleibt unklar, ob und wann sie sich politisch wieder beteiligen können.

Ist diese Entwicklung nicht tragisch für die Muslimbrüder?

Das ist für die Bewegung allerdings tragisch. Aber man darf nicht vergessen, dass auch viele nicht-islamistische Aktivisten im Gefängnis sitzen. Jegliche Opposition wird momentan zum Schweigen gebracht. Bedenklich ist außerdem, dass die ägyptische Gesellschaft immer stärker auseinanderdriftet. Es herrscht eine Polarisierung, entweder man ist mit Mursi oder mit Sissi. Es herrscht eine fast menschenfeindliche Polemik auf beiden Seiten. Wir sehen ein altes Regime an der Macht, das sich neu formiert und stärker als zuvor erscheint.

Haben Sie eigentlich mal gehört, wie Ihre Gesprächspartner Ihre Publikationen finden?

Nein, die sitzen ja alle im Gefängnis.