„Riesige Zustimmung für Beck“

Eine große SPD-Mehrheit plädiere für ein „Nachjustieren“ der Agenda-Politik, meint Bundestagsvize Wolfgang Thierse. Und: Gemeinsamer Beschluss mit der Union möglich

WOLFGANG THIERSE, 63, sitzt seit 1990 für die SPD im Bundestag. Seit 2005 ist er stellvertretender Bundestagspräsident.

taz: Herr Thierse, die SPD streitet über das ALG I. Geht es nicht eigentlich um viel mehr?

Wolfgang Thierse: Wir streiten nicht, wir diskutieren. Und das ist keineswegs überraschend. Wir diskutieren über eine Veränderung beim ALG I in der Überzeugung, die wir schon vor Jahren angekündigt haben: Wir müssen die Wirkungen unserer Entscheidungen überprüfen können und dann nachjustieren.

Ist das der Anfang vom Ende der Agenda 2010?

Wir wollen eine gerechtere Verteilung der positiven Wirkungen des Aufschwungs – das ist die Überschrift unseres Vorschlags, das ALG I länger auszuzahlen. Das ist keine Abkehr von der Agenda 2010, sondern ein Nachjustieren an einer sehr konkreten, immer umstrittenen Stelle.

CDU und Linkspartei fordern das schon lange. Wird der Druck für die SPD zu groß?

Das gehört schon fast zur Verkommenheit der politischen Kommunikation. Es wird nicht mehr der sachliche Gehalt eines Vorschlags und seine Angemessenheit geprüft, sondern nur der parteipolitische Effekt. Wir nehmen einen Vorschlag der Gewerkschaften auf, warum sollten wir das nicht tun. Die Finanzierungsidee von Rüttgers, bei jüngeren Leuten zu kürzen, lehnen wir ab. An einen präzisen Vorschlag der Linkspartei kann ich mich nicht erinnern.

Aber die Einsicht kommt doch sehr plötzlich. Noch letztes Jahr hörte sich das in der SPD ganz anders an. Was hat sich denn konkret geändert?

Die wirkliche Situation. Erstens ist die wirtschaftliche Gesamtentwicklung besser, zweitens auch die finanzielle Situation der Bundesanstalt für Arbeit. Die einen plädieren für eine Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, wir aber wollen zunächst prüfen, ob wir nicht eine gerechtere Leistung aus der Versicherung finanzieren können.

In welchen anderen Punkten der Agenda 2010 sehen Sie Diskussionsbedarf?

Mir reicht das jetzt erst mal.

Die Reaktion der CDU ist eher von Häme geprägt als von Zustimmung.

Wenn sich die CDU ein bisschen ernst nimmt und nicht nur parteipolitisch agiert, müsste sie sich an einen Parteitag erinnern, wo sie Rüttgers zugestimmt hat. Unser Vorschlag ist nicht identisch, aber es gibt eine gemeinsame Intention, Arbeitslebensleistungen angemessener zu berücksichtigen. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn man nicht relativ kurzfristig einen gemeinsamen Beschluss fassen könnte.

SPD-Chef Kurt Beck hat in einem Brief an die Parteimitglieder die Kosten einer längeren Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I auf 800 Millionen Euro beziffert. In dem gemeinsam mit Generalsekretär Hubertus Heil verfassten Schreiben forderte Beck, die Verlängerung aus den Überschüssen der Bundesagentur für Arbeit zu finanzieren. Beide kündigten zudem Initiativen an, um den Missbrauch von Leiharbeit zu bekämpfen, der Kinderarmut entgegenzuwirken sowie flexible Rentenzugänge zu schaffen. „Unser Hauptziel bleibt die Verbesserung der Beschäftigungschancen für Ältere“, heißt es in dem Brief. Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD), der die ALG-I-Pläne ablehnt, will am Donnerstag eine Regierungserklärung zur Arbeitsmarktpolitik abgeben. Bisher ist unklar, ob er sich dabei auch über Becks Vorschlag äußern wird. VM

Aber nicht einmal in der SPD ist doch eine gemeinsame Haltung erkennbar. Ausgerechnet der zuständige Minister Franz Müntefering ist gegen Becks Vorschlag.

Die SPD wird zu einer einheitlichen Position finden. Mein Eindruck ist, dass der Vorschlag von Kurt Beck auf riesige Zustimmung innerhalb der SPD stößt. Die vielen Reaktionen aus den Landesverbänden sind absolut eindeutig.

Auch Müntefering ist mit seiner Ablehnung eindeutig. Wie bringen Sie das zusammen?

Dass er als Minister das bisher Geregelte verteidigt, kann ich menschlich wie politisch verstehen. Jetzt geht es um einen Vorschlag, der nicht alles Bisherige aufhebt, sondern nachjustiert. Da wird es gelingen, zu einer gemeinsamen Meinung zu kommen. Und zwar mit Franz Müntefering. INTERVIEW: VEIT MEDICK