Impfung gegen Mobbing

An zwölf Hamburger Schulen werden „Anti-Mobbing-Koffer“ mit Filmen und Unterrichtsmaterialien erprobt. Dabei geht es ausschließlich um Quälereien unter Schülern, nicht um Lehrerverhalten

VON HANNES LEUSCHNER

Ist der Mensch dem Menschen von Natur aus ein Wolf? Es scheint, als hätte der pessimistische Staatstheoretiker Thomas Hobbes damit Recht gehabt: Ein Junge wird im Bus umher geschubst, auf dem Pausenhof umzingelt und beschimpft. Die Szenen sind aus einem kurzen Film der Hamburger Filmemacherin Manuela Liz Lundgren. Dazu gibt es einen Sound, der an den Song „Gangsta’s Paradise“ erinnert und wenig später auch anrührenden Deutschpop: Wenn der geschlagene Junge mit blutender Nase allein zurückbleibt.

„Schulweg der Angst“ lautet einer der Zwischentitel, der ohne Scheu vor Berührungen mit dem Horror-Film-Genre eingeblendet wird. Es geht um Mobbing an Schulen. Und scheinbar gibt es Hoffnung: Zwei Mädchen sitzen abseits auf einer Tischtennisplatte und räsonnieren. Immer auf den einen, das sei unfair. Aber wenn sie nur zusähen, seien sie kein Stück besser.

Um die Schulen, die Schüler und somit – vielleicht – die Welt ein Stück gesünder zu machen, haben Filmemacherin Lundgren, Sport- und Bildungssenatorin Alexandra Dinges-Dierig (CDU) und der Kinderpsychologe Peter Riedesser das Projekt „Mobbingfreie Schule“ in Gang gesetzt. Als Träger konnte die Techniker Krankenkasse gewonnen werden. Denn Stress macht krank, und da ist es sinnvoller, im Vorfeld für die Gesundheit als im Nachhinein gegen die Krankheit zu kämpfen.

Lundgrens dreht für die Aktion insgesamt vier Filme, die sich an Schüler, Lehrer und Eltern richten. Alexander, ein 15-Jähriger, der jahrelang gemobbt wurde und sich schließlich aus der Verlierer-Rolle befreien konnte, taucht als eine Art Held darin auf. Er initiierte eine Internetseite für Mobbing-Opfer, und seine Botschaft ist: Ihr schafft das auch.

Lundgrens Filme sind neben weiterem Unterrichtsmaterial Bestandteil von „Anti-Mobbing-Koffern“, die dieser Tage erstmals an zwölf Hamburger Schulen gingen. Welche das sind, wird vorerst nicht offengelegt, um eine Ablenkung oder Belastung durch die Presse zu vermeiden.

Innerhalb von Projektwochen soll dort das Thema Mobbing in Gesprächen und Rollenspielen intensiv behandelt werden. Wenn der Modellversuch erfolgreich ist, sollen die Koffer verbessert und zunächst hamburgweit und später in anderen Bundesländern eingesetzt werden.

Es handele sich, sagt Riedesser sehr euphorisch, um eine „historische Chance“. Den Umbruch, der nun möglich sei, vergleicht er mit der Einführung der Impfung gegen Kinderlähmung. So, als handele es sich bei der Aktion um eine Art Gesellschaftsimpfung: um eine gute Dosis Frieden und Solidarität, die man den fünften, sechsten Klassen spritzen könne, bevor sich daraus die kranke Gesellschaft entwickelt, in der die Erwachsenen leben. Die Medien, wünschen sich die Initiatoren, sollen dabei helfen, die Botschaft zu verbreiten. Gegen Mobbing soll eine „zero-tolerance“-Kultur entstehen. Die Initiatoren freuen sich, wie gut und schnell das alles klappt. Und malen sich aus, wie gut alles wäre, wenn dieses lange Zeit ignorierte Mobbing an den Schulen endlich konsequent bekämpft würde.

Lehrer- und Elternverbände beschäftigen sich schon länger mit Quälereien unter Schülern – wenn auch nicht unbedingt unter dem Label „Mobbing“. Es ist auch fraglich, wie sinnvoll die Verwendung dieses Begriffs überhaupt ist: Ein weites Spektrum von Übergriffen, religiösen oder ethnischen Diskriminierungen etwa, wird dadurch auf einen vielleicht unzulänglichen Nenner gebracht.

Und: Wie sieht es eigentlich mit dem Umfeld Schule aus? Gefragt, ob Mobbing nicht auch von Lehrern ausgehen könne, winkt Riedesser ab: „Das gibt es alles.“ Ist aber nicht Gegenstand seines Projekts.

An einem liebevolleren Miteinander der Schüler zu arbeiten, ist sicher ein wichtiges Anliegen. Jeder sechste Schüler, informiert die Techniker Krankenkasse, sei schon einmal Opfer von Mobbing gewesen. Riedesser kann aus seiner Praxis berichten, zu welchem Leiden das führt. Dennoch irritiert die Ausgangsidee des Projektes, dass nämlich die Probleme im Mikrokosmos Klassengemeinschaft wurzelten. Stellt man sich die Schulklasse als Betrieb vor, die Schüler als Angestellte und den Lehrer als Chef, würde das bedeuten: Der Chef mobbt nicht. Der Erwachsene kann sich zurücklehnen und sagen: So ein schönes Projekt – ohne sich über die Maßen an die eigene Nase fassen zu müssen.