„Der Protagonist ist die Botschaft“

NEUE BEWEGUNG Die Proteste der „Empörten“ begannen in Spanien. Wie wird die Entwicklung dort gesehen?

■ 33, ist Soziologe an der Universität Complutense in Madrid. Dort ist erMitglied der Forschungsgruppe Cibersomosaguas zu digitaler Kultur und sozialen Bewegungen. Er betreibt zudem eine Webseite zu Soziologie und sozialen Netzwerken: www.sociologiayredessociales.com

taz: Herr de Rivera, die ersten Demonstrationen gab es in Spanien am 15. Mai. Hat Sie der Erfolg damals überrascht?

Javier de Rivera: Ja. Aber das Netz ist ein enormer Resonanzkörper. Da macht jemand etwas, es gibt Reaktionen. Die Botschaft verselbstständigt sich. In Madrid ging die Bewegung auf eine Gruppe von Studenten zurück, die gegen ihre mangelnden Perspektiven protestieren wollten. Andere Gruppen wurden davon stimuliert. Das Kollektiv „Echte Demokratie Jetzt!“ entstand – mit einer ganz einfachen Botschaft: Unsere Demokratie ist ausgehöhlt. Die Bürger brauchen mehr Mitbestimmung. Der Nachhall dieser Botschaft war enorm.

Was genau ist die „Bewegung 15-M“?

Der Protagonist ist die Botschaft, die Idee. Das führt dazu, dass die Repräsentanten häufig andere sind. Je nachdem, wie die Bewegung eine Botschaft aufnimmt, wird ihr Autor repräsentativ für die Bewegung oder nicht. Es gibt keine Hierarchie. Das ist neu und wird auch hier in Spanien nicht von allen Medien verstanden.

Manche Politiker suchen immer noch nach Kräften, die die Bewegung steuern könnten.

Solche Fragen kann ich mir auch stellen. Aber ich frage mich dann immer, wer daraus Kapital schlägt. 2004 profitierten die Sozialisten von den Protesten gegen die Volkspartei. Es ist durchaus denkbar, dass sie versuchten, diese Proteste auch zu stimulieren. Es gibt auch Theorien, nach denen das Unternehmen Google die Arabische Revolution in Ägypten unterstützt hat. Aber ich sehe niemanden, der davon profitiert, wenn die Leute in Madrid oder auf der Wall Street protestieren. Zudem distanziert sich die Bewegung von politischen Parteien, die sie vereinnahmen wollen.

Die Bewegung scheint sich aber schwer damit zu tun, politische Lösungen zu formulieren.

Das Ziel ist, jeden Einzelnen zum Nachdenken zu bringen. Dabei kann kein politisches Programm entstehen. Aber an den Versammlungen teilzunehmen, zuzuhören und sich zu artikulieren, bedeutet auch Veränderung. Das Teilnehmen ist viel wichtiger, als konkrete politische Lösungen zu finden.

INTERVIEW: HANS KELLNER