berliner szenen Beziehung

Mann auf dem Posten

Fast ein ganzes Jahr lang hat er ihr zugeschaut von seinem Posten aus. Wann immer er Zeit hatte, stand er da, und er hatte viel Zeit. Er lebte im Haus gegenüber und konnte sie gut sehen, wenn sie im Lichtkegel ihrer Schreibtischlampe saß, abends, nachts. Wenn sie aufschaute, stand er am Fenster, im Dunkeln. Sie erkannte ihn an der Glut seiner Zigarette.

Als die Frau an den warmen Tagen auf ihrem Balkon Platz nahm, hielt er Stand auf seinem Posten, linste schüchtern herüber, trank viel Kaffee im Fenster lehnend, sonnte sich, rauchte Kette. Er lief ständig zwischen dem Fenster und dem Off hin und her. Eine rastlose Pendelbewegung war das, gleich der eines gefangenen Tigers. Ausgeführt wohl, um nicht so aufzufallen, jedenfalls schien es ihr so.

Manchmal begegneten sie einander auf der Straße und schauten betont in eine andere Richtung, so, als würden sie sich überhaupt nicht kennen. Einmal saßen sie in einem Café vis à vis an verschiedenen Tischen, schoben Zeitungen zwischen sich und gaben vor zu lesen. Er sah einsam aus. Dünnhäutig. Fragil. Und er hatte ein sympathisches, sanftes Gesicht.

Außer auf seinem Posten zu sein, gab es ein anderes Ritual, das seine Tage strukturierte: Jeden Mittag radelte er mit seinem gelben Fahrrad davon, um kurze Zeit später wieder zu Hause einzutreffen.

Zu Anfang war die Frau von diesem Lebensstil beunruhigt, sie fing an, ihn zu beobachten, was sie umso stärker irritierte. Dann muss sie sich schnell an ihn gewöhnt haben, er stand ja immer da, verlässlich, auf seinem Posten, und tat nichts. Nun ist er fort. Seltsam verwaist wirkt das Fenster, und sie vergewissert sich ständig, dass sein Platz leer ist.GUNDA SCHWANTJE