Schlagzeilen aus dem Gefängnis

Die Gefangenenzeitung Blickpunkt in der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel wird von Häftlingen für Häftlinge gemacht. Ihr Chefredakteur Sven B. hat die Freiheit, investigativ zu arbeiten. Manchmal gelingt ihm sogar eine Enthüllung. Ihn zu treffen, ist trotzdem nicht ganz einfach

VON ANNIKA STENZEL

Jeden Wochentag um Punkt 18.30 Uhr verlassen Sven B. und Karl-Heinz H. ihre beiden Schreibtische in dem fensterlosen, kleinen Redaktionsraum. Manche Redakteure würden sich über einen Feierabend um halb sieben freuen. Sven B. und Karl-Heinz H. tun das nicht, denn um halb sieben ist Einschluss. Manchmal arbeiten die beiden dann noch getrennt in ihren Zellen weiter an ihrer Zeitung: Sven B. und Karl-Heinz H. sind die beiden Redakteure des Gefangenenmagazins Blickpunkt in der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel .

In Deutschland gibt es etwa 60 Gefangenenzeitungen. Manche erscheinen nur innerhalb der Gefängnismauern. Den Blickpunkt kann man auch außerhalb der JVA Fuhlsbüttel beziehen und in Bücherhallen und einigen Cafés lesen. Er erscheint in einer Auflage von 2.000 Exemplaren. Auf knapp 70 Seiten geht es in der aktuellen Ausgabe um Urteile und Veränderungen im Strafvollzug und die Interpretation von Gesetzen. Es gibt ein Spezial über die Gestaltung der Sozialtherapie und Berichte über Veranstaltungen, die in der JVA stattfinden, wie das Sportfest oder Theater. Bebildert ist die Zeitung, die eigentlich ein textlastiges Magazin ist, vor allem mit Karikaturen und Schmuckbildern.

Chefredakteur des Blickpunkts ist Sven B. Er sitzt im geschlossenen Vollzug, seit er vor zehn Jahren eine alte Frau erdrosselt hat. Es ist nicht einfach, einen Termin mit ihm zu bekommen. Drei Wochen Vorlauf und etliche E-Mails mit der Anstaltsleitung und der Justizbehörde braucht es, um ein Treffen in der JVA während der regulären Besuchszeit zu arrangieren.

Ein regulärer JVA-Besuch bedeutet: Anstehen, Personalausweis abliefern, abtasten lassen und durch schmale, vergitterte Gänge in einen turnhallengroßen Raum gehen. Man setzt sich an einen kleinen, nummerierten Tisch und wartet. Nach und nach werden Gefangene eingelassen: Große, tätowierte Männer, die vorsichtig in Kinderwagen schauen; Söhne, die ihre Mütter umarmen und langhaarige Jungs in Lederkluft, die sich mit ihrem inhaftierten Kumpel herumschubsen.

Sven B. eilt an einen abgelegenen Tisch. Der 42-Jährige trägt Jeans zum grauen T-Shirt, ist mittelblond und schmächtig. Er redet schnell und viel. Seit sechs Jahren arbeitet er neben seinem 40-Stunden-Job in der gefängniseigenen Druckerei für die Gefangenenzeitung Blickpunkt. Mitinsasse Karl-Heinz H. ist sein einziger Mitarbeiter. Sonst hat offenbar keiner der Gefangenen Lust, Texte zu schreiben. Beide opfern für den Blickpunkt ihre Freizeit, schreiben, layouten und recherchieren. Telefon und Internet stehen der Redaktion nicht zur Verfügung. Deswegen ist die „Zeitung von Gefangenen für Gefangene“ nicht aktuell. Will sie auch nicht sein.

Das Heft soll alle zwei Monate herauskommen, doch das klappt nicht immer. Sven B. studiert neben seinem Job in der Druckerei und der Arbeit beim Blickpunkt an einer Fernuniversität Rechtswissenschaften. Er wälzt Urteile, Gesetzestexte und dicke Rechtsbücher. Von seinem wachsenden Wissen profitieren seine Leser. „Viele Gefangene können mit Rechtsliteratur nichts anfangen“, sagt er. „Ich schreibe Texte, wenn es etwas Neues gibt und das für uns hier drin von Bedeutung ist.“ Wichtig ist für Sven B. auch die Sprache. „Hier im Knast ist die Sprache auf einem schlechten Straßen-Niveau, das will ich im Blickpunkt nicht haben.“ Er weiß, dass viele Insassen der JVA seine Texte, die trotz Vereinfachungen noch immer sehr rechtswissenschaftlich geschrieben sind, nicht verstehen. „Ich werde oft wegen der wissenschaftlichen Sprache kritisiert, aber ich muss niemandem gerecht werden außer mir selbst.“ Trotzdem geht er manchmal Kompromisse ein, beispielsweise mit der Sudoku-Seite. „Für mich ist das eine verlorene Seite“, sagt Sven B.

Herausgeber des Blickpunktes ist die Anstaltsleitung der JVA, bei der Sven B. im Zweifel die Inhalte seiner Artikeln belegen muss. Die Namen von Informanten muss er – wie im freien Journalismus – nicht preisgeben. Die Amtsleitung kann den Blickpunkt jedoch zensieren. Das passiere aber äußerst selten, „weil das Vertrauensverhältnis da ist“, sagt Sven B.. Er ist erstaunt, wie viel Freiheit er bei seiner Arbeit hat. Ab und zu werden ihm Dokumente von draußen ins Gefängnis geschickt. Post an Gefangene darf von Angestellten der JVA durchgesehen werden. Das passiert aber auch nicht oft.

Sven B. hat Informanten „nicht nur von draußen, auch unter den Angestellten der JVA“. Deswegen gelingt dem Blickpunkt manche Enthüllung: Im Dezember 2003 hatte die Hamburger Presse über eine Gefängnisrevolte im Haus II der JVA berichtet. Als Folge der „Revolte“ wurden die Regeln verschärft. Die Durchgänge zu anderen Gefangenen wurden geschlossen, der Freigang für alle Insassen des Hauses wurde gekürzt. Durch einen Informanten deckte der Blickpunkt auf, dass die Verschärfungen der Haftbedingungen schon vor der „Revolte“ beschlossen worden waren – bei einem internen Workshop in Ammersbek, einen Monat vor dem Tumult. Auch solche Haftanstalts-kritischen Texte werden gedruckt.

„Die Anstaltsleitung staunt oft, woher ich meine Informationen habe, aber wenn ich alles belegen kann, kommt das auch ins Blatt“, sagt Sven B. Die Zusammenarbeit funktioniert: „Ich vermeide Provokation und Polemik, deswegen gibt es selten Ärger.“

Auch sonst gibt sich Sven B. diplomatisch: „Ich versuche zu fast allen ein nettes Verhältnis zu haben“, sagt er. Sven B. unterhält sich auch mit den Gefangenen, die von anderen gemieden werden, weil sie für die Mitgefangenen besonders verwerfliche Straftaten wie Kinderschändung begangen haben. Ihn kümmert das nicht: „Es kann doch nicht sein, dass Gefangene über Gefangene urteilen“, findet er. Vielleicht prädestiniert ihn diese Neutralität als Chefredakteur im Knast, doch Sven B. hat auch andere Motive als das journalistische Ethos.

Sven B. bringt die Arbeit beim Blickpunkt viele Vorteile. Er könne sich mit den „Oberen“ der JVA unterhalten, könne sich freier als andere Gefangene im Haus bewegen und habe durch den Blickpunkt die Chance, sich zu bewähren und seine Strafe zu verkürzen, erzählt er. Bei guter Führung könne er vielleicht in zwei oder drei Jahren in den offenen Vollzug wechseln und dann in die Freiheit. „Durch den Blickpunkt kennt man mich im ganzen Haus“, sagt er. „Wenn ich dann beurteilt werden soll, bin ich keine Nummer mehr, sondern ein Mensch, dem man schon mal die Hand geschüttelt hat.“