Das Ghetto und der Verräter

WELTLITERATUR Steve Sem-Sandbergs großer Roman „Die Elenden von Lodz“: Ein peinigendes Stück Weltgeschichte über das Leben im jüdischen Ghetto

VON KLAUS HILLENBRAND

Rumkowski, Mordechai Chaim, geboren 1877 in Iljino, später Kaufmann in Lodz, Direktor des jüdischen Waisenhauses in Helenowek bei Lodz, ab 13. Oktober 1939 Vorsitzender des Judenrats des Ghettos von Lodz, am 30. August 1944 nach Auschwitz deportiert, dort zusammen mit seiner Familie ermordet.

Rumkowski, der Mörder: Als Judenältester fungierte er als Erfüllungsgehilfe der Nazis. Er errichtete im Ghetto die Fabriken, in denen die Juden ihre Arbeitskraft bis zur völligen Erschöpfung der deutschen Kriegswirtschaft zur Verfügung stellten. Er verantwortete die jüdische Ghetto-Polizei, die nach Gutdünken Menschen einsperrte und peinigte. Er besorgte im Auftrag der Nazis die Listen mit den Namen von Zehntausenden Menschen, die deportiert und ermordet wurden.

Rumkowski, der Retter: Als Judenältester sorgte er durch die Einrichtung von Fabriken dafür, dass die Menschen nicht sofort ermordet wurden, sondern weiterleben durften. Er verweigerte seine Mitwirkung bei der Deportation der Ghetto-Kinder, die dennoch ermordet wurden. Ihm war es zu verdanken, dass das Ghetto bis 1944 bestand und dadurch zwischen 5.000 und 7.000 Menschen den Holocaust überlebten.

70 Jahre später hat der Schwede Steve Sem-Sandberg den Judenältesten Caim Rumkowski zur Hauptfigur eines Romans von epochaler Wucht gemacht. Oder ist dies gar kein Roman mehr? Sem-Sandberg montiert Texte aus der jüdischen Ghetto-Chronik und Reden der deutschen Machthaber in Lodz mit realen und fiktiven Figuren. Er verfolgt so das Leben und Sterben einiger Dutzend Menschen über fünf Jahre hinweg: der Krankenschwester Rosa, des Heizers Feldman, der Sekretärin Vera. Und von Rumkowski.

Sem-Sandberg greift damit eine Kontroverse auf, die strittiger nicht sein kann. Wer war dieser Mann, Retter in der Not oder Gehilfe des Massenmords? Liebevoller Stiefvater oder ekelhafter Päderast? Fürsorglicher Chef oder sich selbst bereichernder Egomane? Der Autor gibt keine leichten Antworten.

Ja, natürlich gibt es in diesem großartigen Roman Gut und Böse, genauso wie in der furchtbaren Geschichte des Ghettos, repräsentiert einerseits durch die verzweifelten Ghetto-Bewohner und andererseits mit Hans Biebow, dem deutschen Chef der Ghetto-Verwaltung. Aber bei der Person Rumkowski überwiegt das Janusköpfige. Der Mann ist ein Verräter und Ekel, zweifellos. Aber hat er nicht vielleicht doch auch geholfen oder wenigstens zu helfen versucht?

Sem-Sandberg entwirft in seinem Roman ein Panorama des Elends. Er verfolgt die verzweifelten Überlebensstrategien seiner Protagonisten im Ghetto. Er peinigt seine Leser mit Einzelheiten, mit kleinsten Details des Grauens. Es gibt keine Hoffnung, der sich der Leser auf der Suche nach einem lichten Moment anschließen kann. In diesem Buch gibt es aber auch keine billigen Effekte, keine gedrechselten Plots, nichts Peinliches – nur Peinigendes. Und trotz dieser schwer erträglichen Einzelheiten verschlingt man diesen Roman.

Sem-Sandberg hat mit „Die Elenden von Lodz“ ein Stück Weltliteratur geschrieben. Und er hat den namenlosen Ermordeten ein Denkmal errichtet, wahrhaftiger als vieles, das in den letzten Jahrzehnten in Stein gehauen worden ist.

Steve Sem-Sandberg: „Die Elenden von Lodz“. Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek. Klett-Cotta, Stuttgart 2011, 651 Seiten, 26,95 Euro