Gesichter jenseits des Klischees

Gino Puddu kam einst der Liebe wegen aus Italien nach Berlin. Der Gastronom hat Freunde und Bekannte fotografiert, einmal vor 10 Jahren und einmal heute. Es sind Künstler, Architekten und Journalisten. Puddus Fotoband „Autoritratto“ gibt einen intimem Einblick in die italienische Szene der Stadt

VON ANDREA HANDELS

Gino Puddu ist ein Mann der Gesten. Wenn er redet, hält er seine Hände keinen Augenblick still. Zumindest hierin entspricht er dem Klischee. Gino Puddu aber mag keine Klischees. Italiener sind temperamentvoll, laut und immer gut gelaunt? Sie reden ständig von Amore, backen Pizza und singen dabei?

In Gino Puddus Fotoband finden sich solche Italiener nicht. Hier sind Menschen, die eher nachdenklich in die Kamera blicken, in ihren Gesichtern nur die Andeutung eines Lächelns. Gino Puddu hat Freunde und Bekannte und Bekannte von Bekannten fotografiert: Übersetzer, Architekten, Journalisten, Künstler, Erzieher und Gastronomen, die es nach Berlin verschlagen hat. „Autoritratto“, so der Titel des Buches, bedeutet „Selbstporträt“.

Gino Puddu findet sich selbst in den Gesichtern wieder. „Etwas verbindet mich mit ihnen und mit den vielen anderen, die sie vertreten“, schreibt er über seine Protagonisten. „Söhne und Töchter einer Entscheidung, eines Traumes, eines Zufalls, mit dem schwierigen Aufbau ihrer selbst auf fremden Gebiet beschäftigt.“

Flucht aus der Enge

Es sind Leute wie er: Viele von ihnen kamen in den 80er-Jahren nach Berlin, einige weil sie sich verliebt hatten, alle auf der Suche nach einem anderen, einem interessanteren Leben, das ihnen ihre Dörfer und Städte in Italien nicht bieten konnten. Sie entflohen der Enge und der Provinzialität ihrer Heimat. Im Gegensatz zu manchen Städten in Westdeutschland wie Wolfsburg oder Stuttgart war Berlin nie ein klassisches Ziel von italienischen Arbeitsmigranten. Wer hierherkam und -kommt, hat meist mehr im Sinn als Lohn und Brot: sich verwirklichen, Träume leben.

Wie Gino Puddu, ein gebürtiger Sarde, aufgewachsen in Vigevano in der Nähe von Mailand. Er lernte Anfang der 80er eine Deutsche kennen und zog ihretwegen nach Berlin, damals noch Westberlin. Es galt, diverse Grenzen zu überwinden, der Schritt war um einiges größer, als er es heute wäre. Die Liebe zerbrach, doch Gino Puddu blieb und stieg als Partner ins Café Aroma ein, ein Restaurant, das eine Institution der italienischen Szene wurde – in der Tradition der Kreuzberger Osteria No Uno. Vor ein paar Wochen feierte das Café Aroma sein 20-jähriges Bestehen: ein Restaurant mit politischem Anspruch und Fotogalerie, lange Zeit zur „berlusconifreien Zone“ erklärt, was sich nun erübrigt hat.

Jüngst trat Gino Puddu gemeinsam mit anderen italienischen Gastronomen an die Öffentlichkeit, um sich nach den Ereignissen von Duisburg gegen die Mafia zu positionieren. Obwohl in seinem Café Aroma noch nie ein Mafiosi erschienen ist. Weder im Aroma noch in den Restaurants seiner Freunde.

Berlin ist einfach nicht der Ort für diese Art von Italienklischees. Die Berliner Italiener sind sowieso eine Ausnahme innerhalb der italienischen Communities in Deutschland. Nur rund 13.000 Italiener gibt es in Berlin, über 600.000 in ganz Deutschland. Viele haben auch hier im weitesten Sinne mit Gastronomie zu tun, aber das Bildungsniveau der Berliner Italiener ist ungleich höher als das der Italiener in anderen deutschen Städten. Es sind viele italienische Akademiker und Künstler darunter, auch wenn manche von ihnen dann doch mangels anderer Möglichkeiten ein Restaurant oder eine Salumeria aufgemacht haben. Ihre Kinder schicken sie in deutsch-italienische Kinderläden und die Europaschulen.

Gino Puddu findet, er habe es gut getroffen hier. Das Restaurant läuft, und er hat genug Zeit und Freiraum für seine Leidenschaft: die Fotografie. Den ersten Band mit Fotos „seiner“ Italiener in Berlin hat er vor zehn Jahren herausgebracht: „Autoritratto und andere Berliner Geschichten.“ Damals hatte er 40 italienische Berliner in einer von ihnen gewählten Umgebung fotografiert: in der Badewanne, in einem Café, auf einer Parkbank, sogar auf einem Friedhof. Jetzt hat er 30 von ihnen wiedergefunden und nur ihre Gesichter fotografiert. Die anderen haben Berlin verlassen, sind zurückgegangen nach Italien oder weitergezogen.

Aber 30 von 40 sind geblieben, eine große Zahl! Was hält sie hier? Die Deutschen träumen von bella Italia, dem Land, wo die Zitronen blühen, und die Italiener leben freiwillig in Berlin? Die Lebensqualität sei hier besser, sagen viele, mehr Grün, weniger Chaos, weniger Verkehr und außerdem bezahlbar. Und sie nehmen dafür in Kauf, irgendwie doch Fremde zu sein. Was ja auch Vorteile haben kann.

Dass die deutsche und die italienische Politik in den letzten Jahren nicht gut miteinander ausgekommen sind, hat der klassischen deutsch-italienischen Anziehungskraft keinen Abbruch getan. Dann schon eher das WM-Halbfinale, als die Italiener die Deutschen aus dem Turnier kickten. Da war die Stimmung kurzfristig schlecht. Aber das hat sich wieder gegeben.

Viele Deutsche sind italophil. Das beschränkt sich nicht auf den Restaurantbesuch, Italiener sind auch im privaten Kreis gern gesehene Gäste. „Oh, Sie kommen aus Italien, wie interessant …“ – wer wollte nicht in dem Moment mit ihm oder ihr tauschen? Italiener sein ist schick, Italien sowieso. Davon profitieren die Berliner Italiener.

Und doch bekommen sie auch die negativen Seiten des Ausländerseins zu spüren. Selten zwar, aber manchmal eben doch, je nachdem, mit wem sie es zu tun haben, mit Busfahrern zum Beispiel oder auf den Ämtern. Sie kämpfen mit der deutschen Grammatik, besonders und auf ewig mit dem „der, die, das“, und werden dabei bestenfalls mitleidig belächelt. Und manchmal wissen sie nicht mehr, wer sie eigentlich sind. Wären sie andere Menschen geworden, wenn sie nicht in die Fremde aufgebrochen wären? Sähen ihre Gesichter anders aus? Sind sie schon eingedeutscht?

Spielwiese Westberlin

„Ich bin ein Wessi“, sagt Gino Puddu. Westberlin war seine Spielwiese. Als er hierherzog, gab es trotz der Enge der Stadt viele Freiräume. Die, die nach ihm kamen in den Neunzigern und nach der Jahrtausendwende, haben Berlin anders kennengelernt. Die Jungen zieht es nach Friedrichshain und Prenzlauer Berg, aber wenn man die deutsch-italienischen Kinderläden als Gradmesser für die Italienerdichte nimmt, dann sind nach wie vor Wilmersdorf, Schöneberg und Kreuzberg die Favoriten. Am Schöneberger Viktoria-Luise-Platz gibt es auch das einzige bekannte öffentliche Verbotsschild auf Italienisch: Offenbar der Nähe der deutsch-italienischen Grundschule und des Kinderladens L’Angolino wegen mahnen auf den Rasenflächen Schilder auf Türkisch, Polnisch und Italienisch, die Rasenflächen nicht zu betreten. Doch das beachtet zum Glück niemand.

„Wir haben vergessen, zurückzukehren“ – dieser Titel eines Films von Fatih Akin treffe auch auf ihn und seine italienischen Freunde zu, sagt Gino Puddu. Eine gewisse Sehnsucht ist da, aber die Lebensumstände sprechen gegen eine Rückkehr nach Italien. Berlin ist ein Teil seiner Heimat geworden, den anderen findet er in seiner Sprache und in der Erinnerung. Die in „Autoritratto“ fotografierten Menschen sind für ihn die Gelegenheit, von der Heimat zu reden, über die Idee von Heimat. Das verbindet.

Und doch: Gino Puddu kann sich vorstellen, eines Tages wieder einen Wohnsitz in Italien zu haben. Dann aber nicht in Vigevano, dem Industriestädtchen bei Mailand, dann in dem Dorf Tula auf Sardinien, wo seine Familie herkommt. Dort, wo die meisten Nachnamen so wie seiner auf den Buchstaben „u“ enden und die Menschen noch mehr mit den Händen reden als im Festlanditalien.

Puddu, Gino (2007): „Autoritratto. In vielen Gesichtern vor gleichem Hintergrund“. Soter editrice