Im Zyklus des Missbrauchs

Aborigines werden die Ureinwohner Australiens, Tasmaniens und einiger benachbarter Inseln genannt. Der Begriff leitet sich aus dem Lateinischen „ab origine“ („von Beginn an“) ab. Dabei handelt es sich nicht um eine einheitliche Bevölkerungsgruppe. Vielmehr fasst die Bezeichnung verschiedene Völker, Stämme und Clans zusammen.

Heute leben die meisten der rund 500.000 Aborigines zwischen ihrem traditionellen und dem modernen Lebensstil. Etwa die Hälfte von ihnen wohnt in Gemeinden in der Nähe von Städten. Die Aborigines gehören zu den Ärmsten in der australischen Gesellschaft, haben die schlechteste medizinische Versorgung.

Die Selbstverwaltungsbehörde der Aborigines, die Aboriginal and Torres Strait Islander Commission wurde 1989 gegründet. Im Juli 2005 wurde das Gremium von der Regierung John Howard aufgelöst. Zur selben Zeit wurde der einzige Senator mit Aborigine-Abstammung, Aden Ridgeway, nicht wiedergewählt. TAZ

AUS SYDNEY URS WÄLTERLIN

Von nichts Geringerem als einem drohenden „weiteren Völkermord“ an den Aborigines warnten am Freitag die Repräsentanten der indigenen Gemeinden Australiens und riefen zum „aktiven, aber friedlichen Widerstand“ gegen die Regierung auf. Dabei sehen auch sie, dass sie ein Problem haben. Nur an dessen Lösung möchten sie beteiligt werden und nicht in kolonialer Manier übergangen.

Es ist jedenfalls nicht das Bild von den australischen Aborigines, wie es man aus der Reisesendung im Fernsehen kennt oder aus Marlo Morgans Ethnokitsch-Novelle „Traumfänger“, das die gegenwärtige Debatte bestimmt. Statt dem „edlen Wilden“, der Kängurus jagt und geheimnisvolle Geschichten aus einer „Traumzeit“ erzählt, geht es um Männer, die in der Isolation des Outbacks ihre Töchter vergewaltigen, um Dreijährige mit Geschlechtskrankheiten und um zwölfjährige schwangere Mädchen.

Ein im Juni veröffentlichter Untersuchungsbericht, den die Regierung des Nordterritoriums in Auftrag gegeben hatte, offenbart, dass der Missbrauch von jungen Aborigines in vielen Gemeinden ebenso weit verbreitet ist wie die Alkohol- und die Drogensucht. Die Folgen seien Verwahrlosung, Depressionen und Selbstmorde. Mehrere Experten meinen, dass die Situation in einigen – keineswegs allen – Aboriginalgemeinden in anderen Bundesstaaten ähnlich sei.

Erstellt wurde die Studie, weil eine Richterin den Missstand öffentlich kritisiert hatte. Viele der darin aufgeführten Beispiele sind derart erschreckend und abstoßend, dass australische Journalisten nicht von den Details berichten möchten. In vielen Dörfern werden sogar Kleinkinder regelmäßig missbraucht. Noch häufiger fallen Teenager dem Missbrauch zum Opfer. Manche Täter sind selbst noch Teenager, und unter den Tätern finden sich auch weiße Bergbauarbeiter, die Aboriginal-Mädchen sexuell ausnutzen.

Dem Kronanwalt Rex Wild, einem der beiden Autoren der Studie, zufolge hat die „zügellose Promiskuität“ bei den Teenagern die über Jahrtausende gewachsenen traditionellen Normen der Aborigines ebenso ersetzt wie die „später von den Missionaren auferlegten Regeln“. Ein Mitglied des Yolngu-Stammes aus dem Gebiet Arnhem Land östlich der Stadt Darwin zitiert der Bericht mit den Worten, dass für viele Teenager Sex ebenso bedeutungslos sei „wie zum Angeln zu gehen“.

Aus Scham, Angst oder Misstrauen würden die Verbrechen in der Regel nicht zur Anzeige gebracht. Nicht selten sind die Eltern oder Verwandte am Missbrauch beteiligt. Zur sozialen Verwahrlosung und mangelnder Ernährung komme die Konfrontation mit harter Pornografie in Form von DVDs und Videos. Manchmal schauten Kinder auch bei echten, brutalen sexuellen Handlungen zu. Oft stünden die Täter unter dem Einfluss von Alkohol und Marihuana oder schnüffelten Benzin. Die australischen Ureinwohner seien in einem „Zyklus des Missbrauchs“, warnen die Autoren: „In vielen Fällen sind die Opfer von gestern die Täter von heute.“

Kaum war die Studie veröffentlicht, kündigte die australische Regierung Maßnahmen an – allerdings keine allgemeinen Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch, sondern welche, die sich allein gegen die Aborigines richten sollten. Eine solche Sonderbehandlung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe hatte es in der jüngeren Geschichte des Landes nicht mehr gegeben.

Der konservative Premierminister John Howard sprach von einem „nationalen Notstand“ und beschuldigte die lokalen Behörden des Northern Territory, die Probleme jahrelang vernachlässigt zu haben. Da das Northern Territory kein souveräner Bundesstaat ist, entzog Premierminister Howard den Behörden die Verwaltungsautorität über die Gemeinden der Aborigines. Die Regierung untersagte den Aborigines Alkohol und Pornos und schickte in über 70 Dörfer Polizisten und Soldaten, um die Einhaltung dieser Verbote zu gewährleisten.

Im August billigte das Parlament mit den Stimmen der sozialdemokratischen Opposition weitere Maßnahmen. Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken, wird künftig die Sozialhilfe gestrichen. Vorsorglich wird die Hälfte der Transferzahlungen zurückbehalten und erst ausbezahlt, wenn die Bedingungen erfüllt sind. Außerdem übernimmt die Zentralregierung für mindestens fünf Jahre die Kontrolle über das Land der Ureinwohner und schafft damit die vor einige Jahren eingeführte Zugangsregelung für Besucher ab. Dadurch wird künftig jeder das Gebiet auch ohne Einwilligung der traditionellen Besitzer betreten können.

Zwar halten sowohl ein großer Teil der Ureinwohner wie der übrigen Bevölkerung die Situation in vielen Gemeinden der Aborigines für untragbar ist und sind davon überzeugt, dass etwas unternommen werden muss. In einigen Siedlungen wurde das Eingreifen der Regierung ausdrücklich begrüßt. Doch vor allem die mangelnde Konsultation der Ureinwohner, das militärische Vorgehen der Regierung und die Sonderbehandlung der Aborigines sorgt bei Ureinwohnern und Bürgerrechtlern für Empörung. Viele halten die Maßnahmen für rassistisch. Dass die Maßnahmen drastisch sind, räumt auch der zuständige Minister Mals Brough ein. Aber, sagt der ehemalige Offizier, „wer wie ich mit den leidenden Müttern und geschlagenen Frauen in diesen Gemeinden gesprochen hat, hat keine Zeit mehr für politische Feinheiten“.

Es geht um Väter, die ihre Töchter vergewaltigen, um Dreijährige mit Geschlechtskrankheiten und zwölfjährige schwangere Mädchen Ein unabhängiger Abgeordneter bezeichnet das Gesetz „als rassistischstes seit der Zeit der Protektorate für Aborigines“

Bemerkenswert ist dabei, dass sich die Regierung Howard in ihrer elfjährigen Amtszeit kein bisschen um das Wohlergehen der Aborigines gekümmert hatte. Die Lebensumstände der rund 500.000 Ureinwohner sind so erbärmlich, dass sie im Durchschnitt fast zwanzig Jahre früher sterben als die 21 Millionen Australier. Obwohl Australien eines der reichsten Länder der Welt ist, leben viele Aborigines in elendigen Verhältnissen. So stehen nur wenige Kilometer von der zentralaustralischen Stadt Alice Springs entfernt Verschläge aus Wellblech, in denen Kinder hausen, die an Krankheiten leiden, wie man sie sonst nur in Entwicklungsländern kennt. Bis vor wenigen Wochen aber waren diese Dinge kaum ein Thema in der australischen Politik. Stattdessen schaffte Howard die unter einer früheren Regierung nach Jahrzehnten harten politischen Kampfes eingeführte Selbstverwaltungsbehörde der Aborigines ab. Einen wirklichen Dialog zwischen den Ureinwohnern und der Regierung gibt es seither nicht mehr. Deshalb wundern sich viele über die Eile, die die Regierung plötzlich an den Tag legt.

Der unabhängige Parlamentarier Peter Andren bezeichnet das Gesetz als „das rassistischste seit der Zeit der Protektorate für Aborigines“, als die Ureinwohner „verwaltet“ wurden und vor dem Gesetz Menschen zweiter Klasse waren. Tatsächlich richten sich die Maßnahmen praktisch ausschließlich gegen die Ureinwohner, obwohl Experten zufolge Kindesmissbrauch, Gewalt und Verwahrlosung ebenso in den weißen Gemeinden verbreitet ist und auch verwahrloste und verarmte weiße Familien ihre Kinder nicht zur Schule schicken. Und warum es den Kindern nutzen soll, wenn den Aborigines die Kontrolle über ihr Land entzogen wird, konnte die Regierung nicht wirklich erklären. Skeptiker, unter ihnen die ehemalige Präsidentin der Selbstverwaltungsbehörde, Pat Turner, sprechen deshalb von einem „Landdiebstahl“, der es der mächtigen und eng mit der Regierung verbundenen Bergbauindustrie erleichtern soll, auf die Bodenschätzen im Gebiet der Aborigines zuzugreifen.

Auch wenn diese Deutung nicht alle Kritiker teilen, halten sie es für offensichtlich, dass die Parlamentswahlen, die etwa im November stattfinden werden, der Grund für das Vorgehen der Regierung sind. Immerhin haben bislang Meinungsumfragen der konservativen Koalition eine vernichtende Niederlage vorhergesagt. Um seine Chancen zu retten, präsentiert sich John Howard als hart durchgreifender Führer. Er zeigt sich als Kämpfer gegen den Föderalismus, den er als Hindernis für Wachstum und Wohlstand erachtet. Ob Wasserversorgung, Universitäten oder Schulen – all diese traditionell von den Bundesstaaten kontrollierten staatlichen Leistungen würden „effektiver“ funktionieren, stünden sie unter der direkten Verwaltung der Zentralregierung.

Angesichts dessen scheint das militärische Vorgehen in den Gemeinden der Aborigines im Northern Territory nur das spektakulärste von mehreren taktischen Manövern zu sein, in einem verzweifelten Kampf der Regierung um ihr eigenes Überleben.

So kommt es, dass selbst jene Ureinwohner, die Polizei und Soldaten zugejubelt haben, den Tag nach den Wahlen fürchten – als den Tag, ab dem sich wieder niemand mehr für ihr Schicksal interessieren wird. Am wenigsten der Premierminister.