berliner szenen Sehtest

Station Wendeschleife

An einem Spätsommernachmittag irgendwo im Berliner Speckgürtel. In der Raymond-Queneau-Straße gibt es am Ende eine Wendeschleife. Ich steige in den wartenden Stadtbus ein. Vorne döst der kahlköpfige Busfahrer, aus dem Radio dröhnt ein alter Whitney-Houston-Hit, sonst ist niemand da.

Als die Abfahrtszeit näher rückt, kommt aus Richtung des katholischen Kinderheims ein Mädchen im rosa Jogging-Anzug gerannt. Sie wedelt aufgeregt mit den Armen, auf dem Anzugoberteil winkt Minnie Maus. Beim Einsteigen redet das Mädchen auf den Busfahrer ein: „Können Sie bitte warten, bis mein Freund da ist!?“ Der Busfahrer zuckt mit den Achseln. In einiger Entfernung sieht man jetzt einen pummeligen Jungen auf Tennissocken, der seine No-Name-Basketballschuhe in den Händen trägt. Mit hochrotem Kopf hastet er vorwärts, als würde an der Wendeschleife nie wieder ein Bus abfahren. Um seinen Hals baumelt eine Klarsichthülle mit der Schülermonatskarte.

Vor dem Haltestellenschild lässt er sich auf den krümeligen Betonboden plumpsen. Umständlich zieht er sich die Schuhe an und macht die Schnürsenkel mit Doppelknoten zu. Dann steigt er ein und setzt sich ganz nach vorne auf einen der Schwerbehinderten-Plätze. Seine Freundin schickt er weiter nach hinten. Als sie den halben Bus durchquert hat, ruft er, ohne sich umzudrehen: „Na, kann man’s noch sehen?“ – „Ja!“ Dann rennt sie ganz nach hinten. „Kann man’s immer noch sehen?“ – „Ja-aah!“ Der pummelige Junge hat sich in den Haaransatz am Hinterkopf eine Faust mit Stinkefinger rasieren lassen. Zischend schließen sich die Türen, und in der Wendeschleife gerät der vordere Teil des Gelenkbusses kurzzeitig außer Sichtweite. ANSGAR WARNER