Vor den Sextouristen

Das Museum für Asiatische Kunst zeigt Arbeiten von zwölf Künstlern, die sich asiatischen „Hyperstädten“ widmen. „Hyper Cities“ blickt hinter die Kulissen von Seoul, Schanghai, Bangkok

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Neulich bin ich nachts durch Osaka gelaufen. Gemeinsam mit Luke Kibet, Mubarak Hasan Shami und Viktor Röthlin. Gemeinsam mit den drei Erstplatzierten des Marathonlaufs der diesjährigen Leichtathletik-WM. Ich saß also vor dem Fernseher, und meine Augen liefen durch eine Stadt, die mir auf eine seltsam vertraute Weise fremd war. Die schnurgeraden Vorstadtmagistralen, angelegt, um weg-, nicht um anzukommen. Die Tankstellen und Autohäuser, global akzeptierte Infrastrukturen der Peripherie. Die zweigeschossigen Häuser, die ein wenig so wirkten, als habe man in einer englischen Industriestadt allen roten Backstein mit betongrauer Pappe verkleidet. Die Leuchtreklamen, Suzuki, Daihatsu, Audi.

Einer Stadt, da sind sich nicht nur Walter Benjamin und Michel de Certeau einig, sollte man am besten gehend begegnen. Vielleicht nicht unbedingt im Marathontempo. Aber doch auf den eigenen Füßen, alle Sinnesorgane weit aufgesperrt. „Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen“, hat Michel de Certeau einmal geschrieben, „es ist der unendliche Prozess, abwesend zu sein und nach dem Eigenen zu suchen.“

Abwesend sein und nach dem Eigenen suchen – so funktionierte meine Fernsehlektüre des Stadtraums von Osaka. Und so funktioniert, um das vorwegzunehmen, auch der Spaziergang durch die Ausstellung „Hyper Cities – Über Städte“ im Museum für Asiatische Kunst in Dahlem, tief unten im Südwesten der Stadt. Eine Distanz, die für den prototypischen Berliner Galerienbummler wahrscheinlich einem Marathonlauf gleichkommt, symbolisch gesprochen. Aber die Reise lohnt, führt sie doch noch viel weiter weg: nach Seoul, Schanghai und Hanoi, nach Peking, nach Tokio.

Viele der Dahlemer Arbeiten sind durchdrungen von der Perspektive des Flaneurs, des Schlenderers mit den wachen Augen. Saskia Wendlands mit der DV-Kamera festgehaltene Alltagschoreografien aus dem Stadtraum Tokios zum Beispiel. Ein Mann stapelt Styroporboxen auf einem Wagen, ein anderer streicht mit fast trainierter Rhythmik ein Dach. Ein Mönch harkt ein Beet, formt neue Muster im Sand. Was ist Ritual, was banal? Grenzen verschwimmen.

Die Suche nach dem Eigenen – oder eben einer eigenen Verortung – ist es, die den zwölf gezeigten Arbeiten und Arbeitsgruppen gemeinsam ist. Die andere Gemeinsamkeit: Alle zwölf Künstler – aus Deutschland, Südkorea, Japan, aus China und Polen – sind Stipendiaten des Deutschen Akademischen Austauschdienstes. Löst man diesen arg bürokratischen Wortwust auf, bleibt das schöne Verb „austauschen“ übrig. Und wieder ist man der wirklich sehenswerten Schau „Hyper Cities“ ein gutes Stück näher gekommen.

Vor Jan Verbeks Videoinstallation „On a Wednesday Night in Tokio“ verweilen die Besucher und lachen. Es ist ein unsicheres Lachen ob der fremden Normen, die uns in den Bildern begegnen. Zu sehen ist eine überfüllte U-Bahn und viel mehr noch der Gleichmut und die Unterwürfigkeit, mit der es die Fahrgäste erdulden, von immer neuen Bahnaufsehern platzsparend drapiert und gestapelt zu werden. Eine zweite Arbeit des in Köln lebenden Künstlers zeigt das nächtliche Ballett eines Verkehrspolizisten, dem der Verkehr abhanden gekommen ist.

In Xu Tans Video „Xin Tian Di“ verschwindet gleich eine ganze Welt. Es ist eine Ballade über den Wandel des gleichnamigen Innenstadtbezirks von Schanghai. Volkswagen passieren Starbucks-Filialen. Und doch ist die von traditionellen Volksliedern begleitete Kamerafahrt kein Klagelied, eher ein lakonisches Inner-City-Roadmovie. Andere Arbeiten verfremden die Orte, finden das Befremdende in ihnen. Geradezu gegenläufig funktionieren dabei die Fotoserien von Delia Keller und Elisabeth Neudörfl. Keller, 1977 in Braunschweig geboren, fokussiert vermeintlich Altes und Authentisches. Und fotografiert doch nur eine Filmkulissenstadt mitten in Beijing, ein Surrogat der Traditionen im gegenwärtigen Heimatland der Abrissbirne. Elisabeth Neudörfl blickt hingegen ganz offensichtlich hinter die Kulissen. In spröden, überprägnanten Schwarz-Weiß-Aufnahmen dokumentiert sie die Rotlichtviertel Bangkoks an einem Morgen, bevor die Sextouristen kommen. „Super Pussy“ heißt ihre Arbeit, so wie die große, ausgeschaltete Leuchtreklame, aus der die Kabel herunterhängen. Scheiben fehlen, roher Beton, eine schäbige Welt.

Auch Moritz Fehr hat eindrückliche Vehikel für urbane Schieflagen gefunden. Seine Fotoserie „Vehikel“ dokumentiert das auf Handwagen zusammengezurrte Hab und Gut Tokioer Obdachloser. Pappkartons, Plastikfolien, karierten Tütentaschen, die es auch an der Spree an allen Ecken gibt. Für 1 oder 2 Euro das Stück.

Und so ist mit den Fotoarbeiten von Moritz Fehr auch der Ausstellungsbesucher wieder heimgekommen. Nicht dort unten im Süden, in Zehlendorf-Dahlem vielleicht. Aber doch mitten in Berlin. Denn die Handkarren der Obdachlosen sind genauso globale Signifikanten wie die Leuchtreklamen der Automarken. Anderes bleibt seltsam fremd, auch diese Distanz zwischen den Welten lässt die Ausstellung gelten. Hyper Cities sind eben keine globalen Dörfer.

„Hyper Cities – Über Städte“. Bis zum 4. November im Museum für Asiatische Kunst, Lansstr. 8, Dahlem, Di.–Fr. 10–18 Uhr, Sa.–So. 11–18 Uhr. Katalog 12 €