Prozess in München: Töten, um dazuzugehören

ISLAMISMUS Harun P. hat in Syrien als Gotteskrieger gegen Assad gekämpft. Jetzt steht er vor Gericht

Nach dem Hauptschulabschluss brach P. drei Ausbildungen ab

MÜNCHEN taz | Harun P., 27 Jahre alt, ist ein höflicher junger Mann. Er wurde in München geboren, ist deutscher Staatsbürger, ging hier zur Schule, hatte deutsche Freunde und kann Wörter wie „Kernspintomograf“ ohne Fehler aussprechen. Im Oktober 2013 brach er als Gotteskrieger nach Syrien auf und kämpfte für die radikalislamische Organisation Junud al-Sham gegen Assad und für die Errichtung eines Gottesstaates. P. stürmte zusammen mit circa 1.600 anderen das staatliche Gefängnis in Aleppo, feuerte mit einer Kalaschnikow auf syrische Soldaten. Als er Angst bekam, ein 16-jähriges Mädchen, das aus dem Terrorcamp zurück nach Deutschland ging, könnte ihn verraten, stiftete er andere an, sie umzubringen. Nach fast einem Jahr wollte dann aber auch er zurück nach Deutschland. In Prag wurde er festgenommen.

Diesen Dienstag begann der Prozess gegen ihn vor dem Oberlandesgericht München wegen der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, gemeinschaftlichem Mord und der versuchten Anstiftung zum Mord. Die Staatsanwaltschaft stützt ihre Anklage unter anderem auf Aussagen von P. gegenüber der Polizei, in denen er seine Mitgliedschaft in der Terrororganisation und seine Ausbildung zum Krieg in Syrien bestätigte.

Die meisten in Deutschland angeklagten Islamisten schweigen vor Gericht, P. will reden. Der schwarze Backenbart des kleinen, sportlichen Mannes ist gestutzt, statt wallender Gewänder trägt er einen grauen Kapuzenpulli. Er ist geläutert. Von „dschihadistischen, terroristischen und islamistischen“ Gruppierungen distanziere er sich. Das von der Bundesanwaltschaft unterstellte Ziel, einen Gottesstaat zu errichten, verfolge er nicht, erklärt sein Anwalt. P. will an der Aufklärung mitwirken. Wie aus einem unauffälligem Jungen ein Dschihadist wird? Am ersten Verhandlungstag versucht P., Antworten zu geben.

Seine Eltern kommen aus Afghanistan, er selbst wuchs mit zwei Brüdern in einer Dreizimmerwohnung in München auf. Der Vater arbeitete, die Mutter war zu Hause, sie hatte wohl Depressionen. Mit ungefähr 14 Jahren fing er an, sich selbst zu ritzen, sein Unterarm musste genäht werden. Er brauchte es zum „Druckabbau“. Nach dem Hauptschulabschluss brach P. drei Ausbildungen ab. Von 17 bis 20 nahm er täglich Drogen: Haschisch, Speed, Ecstasy. Dann lernte er ein türkisches Mädchen kennen, fünf Jahre waren sie zusammen. Sie wurde schwanger, den Eltern sagten sie nichts davon. Im fünften Monat hatte seine Freundin eine Fehlgeburt, das Kind starb. Die Umstände, wie sein Kind beerdigt wurde, habe zu seiner Radikalisierung beigetragen, sagt P. Weil kein Imam kam, hat er viele religiöse Fehler gemacht.

Danach war es nicht mehr wie vorher zwischen ihm und seiner Freundin, sie trennten sich. P. bekam depressive Zustände, er fing an, zum Freitagsgebet zu gehen, schaute sich dschihadistische Videos an. Dort sah er, wie unter Assad Rebellen geköpft wurden. „Da werden Frauen vergewaltigt, Menschen bei lebendigem Leibe beerdigt, Babys verhungern“, sagt P. Es war der Kampf gegen die Ungerechtigkeit, die ihn am Dschihad faszinierte, und der Reiz, dass man „sein eigenes Leben hergibt, um anderen zu helfen“. Der Richter kann nicht glauben, dass der intelligent wirkende Mann vor ihm so kritiklos war. P. erklärt: Dem Prediger Abi Ibrahim schwor er ewige Treue bis in den Tod. Warum? P. sagt, er fühlte sich nicht als Deutscher, nicht als Afghane. Der Imam habe ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit gegeben, das er in Deutschland nie erlebte hatte. LISA SCHNELL