Individuelle Universen

Der Stadtteilkulturladen in Bremen-Huchting hat zum Thema „Identitäten“ ein ebenso einfaches wie wirkungsvolles Ausstellungskonzept entwickelt: Die Koffer- und Rauminstallationen von 40 MigrantInnen sind am Wochenende im Rahmen des Hamburger „Festivals der Kulturen“ zu sehen

VON HENNING BLEYL

Der Raum ist voller Wispern. Es dringt aus zahlreichen Kopfhörern. Wenn man sich einen aufsetzt, wird die akustische Botschaft sehr konkret: Boris Bakuschkin zum Beispiel erzählt, warum er seine Hoffnung auf Wasserstoff als künftige Energiequelle setzt. Bakuschkin ist Verfahrenstechniker, kompliziert aussehende Auszüge seiner Dissertation hängen zur Besichtigung an der Wand. Außerdem ist der 60-Jährige Cellist, Maler, früherer Junior-Volleyballmeister der Sowjetunion und Huchtinger. Kraft letzterer Eigenschaft ist er bei der Ausstellung „Insan... Huchting“ dabei, die am Wochenende beim Hamburger „Festival der Kulturen“ gezeigt wird.

„Insan“ heißt in erstaunlich vielen Sprachen der Welt „Mensch“, Huchting ist ein Bremer Stadtteil. In den Sechzigern hat sich hier die Neue Heimat in Sachen sozialer Wohnungsbau ausgetobt, entsprechend rasant entwickelte sich die Bevölkerung: Derzeit wohnen hier fast 30.000 Menschen aus etwa 80 Nationen. 40 von ihnen nehmen an den „Insan“-Projekten des Kulturladens teil, mit denen Migration als individuelles und kollektives Phänomen erfahrbar gemacht wird. Vor Ort reicht die Erfahrungspalette von Menschen mit pommerschen, schlesischen und ostpreußischen Wurzeln bis hin nach Irak oder Afghanistan. Nicht, dass diese Vielfalt heutzutage noch etwas sehr Besonderes wäre. Aber nicht immer wird sie mit einfachen Mitteln so produktiv genutzt wie vom Huchtinger Kulturladen.

Am Anfang also war der Koffer. Und Fragen: Was bedeutet es für mich, in Huchting zu leben? Was habe ich aus meiner Kultur in meinen hiesigen Alltag gerettet? Was nicht? Es erzeugt eine ganz eigene Art von Intimität, wenn man nun vor den individuellen Koffer-Installationen aus Fotos, Kunsthandwerklichem und Gar-nicht-auf-einen-Nenner-zu-Bringendem sitzt und den dazugehörigen biographischen Erzählungen und Lieblingsmusiken lauscht. Wenn man Brüche und Spannungen begreift: Eine deutsch-arabische Frau hat eine anheimelnde Oase gebastelt. Und erzählt, wie sie mit 19 Jahren den algerischen Pass wegwarf, um sich von den Erziehungsmethoden ihres Vaters loszusagen. „Vadder“, sagt sie. Schließlich ist sie in Norddeutschland aufgewachsen. In den Siebzigern, als in der Disco alle Headbanging gemacht haben und nur ihre Haare wegen der prächtigen arabischen Krause nicht fliegen konnten. Auch eine Form von interkultureller Grenzerfahrung.

Unter den Huchtingern ist eine ehemalige Königin aus Ghana, die auf ihr Amt verzichtet hat, aber eigentlich geht es eher um das Unspektakuläre: Um Jusuf aus dem Libanon, der seinen Koffer schlicht mit Kartoffelchips füllt. Yildiz hingegen hat Atatürk mit in den Koffer genommen: „Der ist für mich ganz wichtig und für die Türkei auch.“ Ein Teenager kommt aus Dagestan. Wo das genau liegt, wird nicht ganz klar, aber offenbar gibt es dort zahlreiche schneebedeckte Berge. Das Mädchen rezitiert ein Gedicht über Heimat, erst kichernd, am Schluss klingt die Stimme ziemlich traurig.

Interessanterweise stellt sich bei all dem nie der betuliche Touch einer multikulturellen Selbsthilfegruppe ein. Dazu sind die spürbar werdenden Individualitäten zu stark – zu vielfältig, widersprüchlich und kurios. „Die meisten Migranten erleben in ihrem Alltag nicht, dass ihnen und ihren Geschichten Gewicht beigemessen wird“, sagt Vera Zimmermann vom Kulturladen-Team. In Huchting ist das anders: Die Koffer-Installationen stoßen auf so reges Interesse, dass in einer weiteren Projektphase ganze Räume gestaltet werden. Für jemanden wie Boris Bakuschkin, den multibegabten Moskauer Ingenieur, ist freilich selbst ein solcher Rahmen eng. Seine Wände borden über von Selbstgemaltem, von Reflexionen des Tschetschenien-Krieges, persönlichen Sportorden, auch von prächtigen Kirchenbildern. „Ich bin Atheist“, sagt seine Stimme im Kopfhörer, „aber ich finde es gut, an Gott zu glauben.“ Derweil wispert es von nebenan: „Aber als Afrolook angesagt war, da war ich ganz vorn.“

„Insan… Huchting“: Ab Freitagabend im Pferdestall am Allende-Platz. Ein Teil der Gruppe nimmt als „Stelzensippe“ auch am Samstags-Umzug teil