„Ich will Mauern einreißen“

Der inzwischen in Hamburg lebende algerische Autor Hamid Skif hat einen neuen Roman geschrieben. „Geografie der Angst“ ist ein eindringliches Buch über das Leben eines anonymen Flüchtlings, der in einer unbekannten Stadt in einer kleinen Kammer lebt

HAMID SKIF, 56, Journalist und Autor, flüchtete 1997 von Algerien nach Hamburg, wo er seitdem lebt. Foto: Verlag

taz: Herr Skif, warum ist es wichtig, dass die Stadt in Ihrem Roman eine unbekannte ist?

Hamid Skif: Es ist wichtig, um den Leser nah an der Geschichte zu haben. Die Stadt soll ein allgemeiner Ort sein. So ist es schwerer, Distanz aufzubauen, weil die Geschichte in jeder Stadt spielen könnte. In einer ersten Fassung habe ich die Geschichte in der Schweiz spielen lassen. Somit war die Geschichte begrenzt, und man wusste: Das ist weit weg. Dann habe ich die Geschichte weiter gefasst. Jetzt kann sie überall spielen: In dem Roman geht es um einen Flüchtling, der in einer kleinen Kammer haust. Einsam und hungrig.

Flüchtet er sich deswegen in Phantasien von seiner Heimat?

Das ist das Phänomen des Eingeschlossenen. Wenn man wenig isst und so viel Angst hat, braucht man Schlupflöcher und Auswege. Diese Auswege sind die Phantasie. Aber es geht auch um Abgründe. Der Roman bewegt sich immer auf der Grenze. Der Student, der ihn versteckt, verliebt sich in den Flüchtling. Weil der die Liebe nicht erwidern kann, wird sie zur Gefahr. Es geht also auch um die Macht, die Menschen übereinander haben.

Sie sind aus Algerien geflüchtet. Haben Sie in dem Buch ihre eigenen Erfahrungen verarbeitet?

Ich versuche mein Leben aus den Romanen herauszulassen. Ich werde immer in die Schublade des Schriftstellers im Exil oder des Flüchtlingsautors gepackt. Das verärgert mich. Das ist nicht meine Geschichte und nicht die Realität. Ich bin nur der Autor. Ich bin nicht wichtig. Die Geschichte ist wichtig. Ich habe mir die Situation eines gejagten Menschen vorgestellt. Ein Mann auf der Flucht. Wie sieht das Leben von diesem Flüchtling aus? Seine Geschichte ist die Tragödie des 21. Jahrhunderts.

Das müssen Sie erklären.

Der italienische Außenminister, d’Alema, hat einmal gesagt: „Die Situation der illegalen Einwanderer, die aus Afrika, Südamerika und Asien nach Europa und Amerika kommen, ist die Tragödie von 2.000 Jahren.“ Das hat mich sehr berührt. Für die Flüchtlinge ist das eine Tragödie, eine menschliche Katastrophe. Die Menschen akzeptieren alles für eine neue Lebenssituation. Sie werden Opfer der Schleuser, der Menschenhändler. Sie fahren über Meere, überwinden Grenzen überall auf der Welt. Auch heute sterben Flüchtlinge, werden erschossen und leben in ständiger Angst. Das treibt mich an.

Und diese Fragen geben Sie nun an die Leser weiter?

Wenn ich nicht wollte, dass meine Geschichten die Menschen bewegen und sie sich Gedanken machen, dann könnte ich auch über Blumen schreiben. Ich aber will Mauern einreißen. Ich will den Leser an die Hand nehmen, ihn in die Geschichte hineinziehen und ihm Angst machen. Ich will, dass man beim Lesen eine Gänsehaut bekommt. Angst führt zu Fragen, und die Leser sollen sich Fragen stellen. Ich bin auch ein Mensch, der der Welt Fragen stellt.

Verstehen Sie sich als politischer Autor?

Immer, wenn ein Autor über ein solches Thema schreibt, sagt man, er sei politisch. Ich beschreibe ein menschliches Problem. Aber die Leser haben natürlich das Recht, das politisch zu lesen. Für mich ist diese Geschichte nicht politisch, sondern menschlich und lebendig. Es ist eine Geschichte über die Angst, über die Liebe und über die Beziehungen der Menschen untereinander. Ein Aufruf, Fragen zu stellen.

Haben Sie deswegen auch das Ende des Buches noch mal geändert?

Ja, es gab ursprünglich ein anderes Ende. Da hat sich der Flüchtling umgebracht. In der jetzigen Fassung ist das Ende offener, und der Leser kann weiter Fragen stellen.

Sie selbst haben auch schon früh angefangen, Fragen zu stellen.

Das stimmt. Aber in erster Linie habe ich mit Gedichten angefangen. Ich habe schon mit zwölf Gedichte veröffentlicht. Und mit 17 war ich ein bekannter Journalist. Ich wollte damals sagen können: Ich bin ein Poet, ein Journalist, ein Romancier. Das ist heute altmodisch, aber ich bin immer noch stolz darauf.

„Geografie der Angst“ hat viel Aufmerksamkeit erregt. Glauben Sie, dass Sie durch diese Aufmerksamkeit etwas bewirken können?

Ich bin sehr gerührt, dass das Buch ein solches Echo auslöst. Das ist zwar keine Lösung für das Flüchtlings-Problem, das kann es aber auch nicht sein. Wenn es aber einen Beitrag dahin gehend leistet, dass man anfängt über Lösungen nachzudenken, dann ist das schon sehr sehr gut. INTERVIEW: ANNIKA STENZEL

Hamid Skif liest heute um 20 Uhr im Hamburger Literaturhaus aus „Geografie der Angst“.