Volle Breitseite Literatur

Das Internationale Literaturfestival Berlin findet zum 7. Mal statt und setzt erneut auf Größe und Heterogenität. Die einzelnen Veranstaltungen sind sorgsam gemacht und bringen unerfreuliche politische Themen einem großen Publikum erstaunlich nahe

VON WIEBKE POROMPKA

Knapp 1.000 Zuschauer kann der große Saal der Berliner Festspiele fassen. Allein die Tatsache, hier Lesungen stattfinden zu lassen, zeugt vielleicht schon für den Größenwahn, der dem Internationalen Literaturfestival gern unterstellt wird. 153 Autoren aus 51 Ländern, 254 Veranstaltungen an 13 Tagen. Das sind die Zahlen, die das Festivalteam in diesem siebten Jahr bekannt gegeben hat. Natürlich ist es einfach, das als Masseneventisierung um ihrer selbst willen zu belächeln. Wer aber die erste Hälfte des Veranstaltungsreigens besucht hat, wird zugeben müssen: Irgendwie funktioniert es.

Arno Widmann zuckte trotzdem merklich zusammen, als er mit dem italienischen Autor Roberto Saviano die Bühne betrat und kaum einer der besagten knapp 1.000 Plätze nicht besetzt war. So einen Andrang erlebt man als Moderator von Lesungen nicht alle Tage. Saviano selbst ist Rummel dieser Art gewöhnt. Seit sein Buch „Gomorrha. Reise ins Reich der Camorra“ erschienen ist, feiert man den 1979 geborenen Saviano in seiner Heimat wie einen Popstar – oder aber trachtet ihm nach dem Leben. Savianos Reportage ist eine beeindruckend, besser: erschreckend anschauliche, zugleich aber auch äußerst reflektierte Schilderung über die Arbeitsweisen und Mechanismen der süditalienischen Mafia. Wie bereits Kinder mit einer Routine des Mordens vertraut gemacht werden und warum gerade deshalb ein Job als Drogenkurier als favorisierte Aufstiegschance unter Jugendlichen gilt, das beschreibt Saviano als Teil eines sozialen Automatismus, der sich durch alle Lebensbereiche zieht.

Nicht erst, als am Ende des Abends eine italienische Dame im Zuschauerraum aufsteht und ruft: „Ich wünschte, das wäre hier nicht nur eine Kulturveranstaltung, sondern so etwas würde endlich mal jemand im italienischen Parlament sagen!“, wird klar, dass Lesungen tatsächlich noch eine soziale Brisanz entfalten können. Eine eher düstere Bestätigung bekommt diese Feststellung, als Saviano, der mit eigenen Bodyguards angereist ist, beim anschließenden Signieren seiner Bücher zusätzlich von Beamten des LKA abgeschirmt wird.

Auch insgesamt ist es ein gesellschaftspolitischer Schwerpunkt, der in der ersten Woche des Literaturfestivals die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Dazu gehört die ebenfalls gut besuchte Lesung der iranischen Autorin Azar Nafisi, deren Buch „Lolita lesen in Teheran“ Teil einer Emanzipationsbewegung darstellt, als deren enthusiastische Botschafterin Nafisi nach Berlin gekommen ist. Und dazu gehören kleinere Veranstaltungen wie die stille Gesprächsrunde „Verantwortung für Srebrenica“ im Foyer der Festspiele, in der Jörg Hafkemeyer sehr klug und respektvoll mit zwei Überlebenden des Massakers sprach, bei dem vor zwölf Jahren tausende von Menschen ermordet wurden. Es ist kaum möglich, alle Ausmaße dessen zu begreifen, was sich damals in Srebrenica vor den Augen der UN-Truppen abgespielt hat, genauso, wie es schwer zu fassen ist, dass Hatidza Mehmedovic, Vertreterin der „Srebrenica-Mütter“, noch immer täglich durch die Straßen einer zerstörten Stadt läuft auf der Suche nach den Überresten ihrer ermordeten Familie.

Immer wieder ist es vor allem das eine, das diese Veranstaltung genauso wie die Lesungen von Roberto Saviano oder Azar Nafisi so wichtig macht: Was hier verhandelt wird, sind Konflikte, die zwar in unserem täglichen Bewusstsein nicht so präsent sein mögen, die aber mit dem Leben in Deutschland unwiderruflich verknüpft sind. Die Morde von Duisburg haben das nur allzu deutlich werden lassen. Wenn Saviano über die Infrastruktur der Camorra spricht, die sich vom Rostocker Hafen bis zu Geschäftsbeziehungen in mitteldeutschen Kleinstädten zieht, und wenn auf dem Podium zum Genozid von Srebrenica über die Verantwortung der UN diskutiert wird, dann wünscht man sich allerdings, dass nicht immer wieder beflissene Zuschauer hier ein Forum zu erblicken meinen, in dem sie ihre eigene politische Beschlagenheit und Weltläufigkeit – gefragt oder ungefragt – zur Schau stellen können. Aber diesen in Seidenbatik gehüllten Damen entgeht man auf dem Literaturfestival ja traditionell nicht. Man muss sich aber weder von ihnen abschrecken lassen, noch sollte man glauben, dass hier zwei Wochen lang auf allen Kanälen Betroffenheit zelebriert wird. Es gab durchaus Veranstaltungen, die in erster Linie mal große, mal weniger große Unterhaltung boten.

Einer der Höhepunkte des Wochenendes war der Auftritt von Mario Vargas Llosa, dem großen alten Herren der lateinamerikanischen Literatur, die in diesem Jahr den offiziellen Schwerpunkt des Literaturfestivals ausmacht. Stolz und einfach umwerfend schön betrat er die Bühne und wurde von einem so tosendem Beifall empfangen, dass man – Kitsch hin, Kitsch her – sich von der allgemeinen Ergriffenheit beinahe doch ein bisschen hätte anstecken lassen. Sein Roman „Das böse Mädchen“ wurde von der Kritik im vergangenen Jahr zwar als ein mit reichlich Lolita-Charme durchsetztes, in Zügen autobiografisches Alterswerk mit eher gemischten Gefühlen aufgenommen. Es lieferte – nicht zuletzt durch Frank Arnold, der die deutschen Passagen unter vollstem körperlichen Einsatz vortrug – jene Form der literarischen Vormittagsunterhaltung, die auch das Publikum aus der Wilmersdorfer und Charlottenburger Nachbarschaft beschwingt hat, nach Hause gehen lässt. Aber so etwas darf in einem Festivalprogramm natürlich auch nicht fehlen.

Überhaupt gibt es kaum etwas, das nicht aufgeboten wird vom Team um Festivalmacher Ulrich Schreiber: Poetry Slam, Kinder- und Jugendliteratur und neben den internationalen auch deutsche Autoren, die aus zum Teil nicht eben ganz druckfrischen Bücher lesen. Das sieht erst mal sehr disparat aus. Vielleicht ist es aber wie bei Michael Ondaatje, der seinen neuen Roman „Divisadero“ vorstellte: Was auf den ersten Blick wie eine Sammlung von nicht zusammenhängenden Teilen wirkt, fügt sich am Ende zu einem Ganzen. Bis Sonntag hat man noch Zeit, die einzelnen Stücke auf dem Literaturfestival zusammenzusammeln.