DIE ALTE FRAU, DIE VOR IHREM HAUS SCHALEN MIT OBST VERKAUFTE, IST VERSCHWUNDEN
: Erdbeeren des Sommers

Foto: privat

REBECCA CLARE SANGER

Im Sommer haben wir einmal bei ihr angehalten. Wir sind aus dem Auto gestiegen und das kurze Stückchen zu ihrem Haus zurückgegangen, während ich in ihren Garten spähte und sah, was ich sehen musste: sie hatte gar keine eigenen Erdbeeren. Wo sollte sie auch genug Erdbeeren in ihrem kleinen Garten anbauen, die ein Schild und den monatelangen Verkauf in Pappschälchen möglich machen würden. Sie stand in einer Kittelschürze vor ihrer handgemalten Saisontafel „Erdbeeren“, „schwarze Johannesbeeren“, „Himbeeren“. Und wir haben sie uns angesehen: halbvolle Schächtelchen Rot mit Grün und ein bisschen Braun, recht volle Schächtelchen Schwarz mit Grün und ein bisschen Braungrau, ganz kleine Schächtelchen mit Rosarotem Samtigen.

Nein, die Erdbeeren seien von einem sehr guten Bauern in Sealand gekommen, antwortete sie meinem skeptischen Mann, den ich auf den fehlenden Erdbeergarten aufmerksam gemacht hatte. Hinter ihr und einem hölzernen Zaunverschlag bellte ein Hund. Ein wenig räudig hörte er sich außerdem an, und zerstrubbelt, denn so sah die Katze aus, die auf dem Holzzaun balancierte, und so sah ihr Haus aus, aus dem sie schnell gekommen war, als sie uns kommen sah.

Wir unterhielten uns freundlich und kauften eine halbvolle Erdbeerschale, da ich Erdbeeren lieber mag als Johannisbeeren. Auf dem Weg zum Auto giftete ich, dass die Erdbeeren fünf Kronen mehr gekostet hätten als beim Supermarkt und guckte in die traurige Schachtel. Ich stellte sie mir vor, wie sie volle, pralle Erdbeerschalen in ihrer zerfledderten Küche auf die Waage stellte, frisch eingetroffen aus Sealand. Wie sie dann unter dem aufmerksamen Blick ihrer Haustiere alle Beeren über 500 Gramm auf andere Schalen verteilte, um noch mehr Profit aus den Touristen zu schlagen als überhaupt schon; mit ihren 5 Kronen mehr als dem Supermarktpreis.

Zu Hause schmeckten uns die Erdbeeren, wie zu erwarten, nicht. Ein Paar Tage später bemerkte ich, dass sie wohl eine Ein-Kilo Schale gebraucht hatte, anstelle von einer Ein-Pfund-Schale. Mein Urteil wurde ein wenig milder, obgleich ich trotzdem den Rest des Sommers die Touristen bedauerte, die an ihrem Haus hielten, vom Schild angelockt wie von der Lorelei.

Genauer genommen fühlte ich mich ihnen überlegen, denn ich kaufte ihre Gammelerdbeeren nicht!

Ich fahre jeden Tag an ihrem Haus vorbei.

Nur selten sehe ich ihren Hund. Vom Sturm wurde ihr Gartenhäuschen umgeweht, bisher hat sie es noch nicht wieder aufgestellt. Kürzlich dachte ich, sie wär vielleicht zu Weihnachten gestorben, das kommt ja durchaus mal vor, bei einsamen älteren Menschen, und war sehr erleichtert, am nächsten Tag doch einen beuligen silbernen Opel in ihrem Holzverschlag stehen zu sehen. Das Weihnachtslicht, welches an ihrem Küchenfenster hängt, ist eine rote, große Kugel und gibt ein Licht ab, wie ich es zuletzt vor einem Puff in Tschechien gesehen habe. Ganz einzeln hängt das Licht in ihrem Haus und erinnert mich an ihre einzelnen Erdbeeren im großen Karton am letzten Sommer, weil es auch rot ist.

Rebecca Clare Sanger pendelt mit Mann und Kindern zwischen Hamburg und der dänischen Insel Møn; von ihr erschien bei Michason & May „Hamburg Walking“, ein Sammelband mit Hamburger Szenen aus der taz.