Neben Hildes Tassen lagern die Utopien

Das Werkbundarchiv überließ in der „Langen Nacht der Dingerklärungen“ die Besucher ganz nonchalant ihren Erinnerungen. Als dann die Plastikbecher ausgingen, war klar: Das Museum der Dinge ist in Kreuzberg angekommen

Um 11 Uhr waren dem Museum die Dinge ausgegangen. Und zwar die Plastikbecher, gleichsam global verständliche Form, sachlich funktional gestalteter Gebrauchsgegenstand und Träger für Ökologiedebatten und Stildiskurse. Der Plastikbecher ist damit ein Ding ganz im Sinne des Werkbundarchivs, das sich 1999 den tollen Zusatz „Museum der Dinge“ gegeben hat. Damals, als die aus dem Privatarchiv des Werkbund-Gründers Henry van der Velde hervorgegangene Sammlung noch im Martin-Gropius-Bau zu Hause war.

Um 11 Uhr also waren die Plastikbecher aus. Nur zehn Minuten später waren sie zurückgekehrt. Allerdings nicht aus dem etwa 40.000 Exponate umfassenden Archiv, dem jeder Dingdünkel so wunderbar fremd ist, dass auch immer mindestens ein Plastikbesteck in der aktuellen Ausstellung gezeigt wird. Sondern vom Spätkauf gegenüber.

Der Praxistest hatte also gezeigt: Das Museum der Dinge hat sich im Alltag der Oranienstraße eingerichtet, dort, wo nach fünfjähriger Pause und temporärer Heimatlosigkeit vor nicht einmal zwei Monaten die neue Schausammlung eröffnet wurde. Und wo die Besucherzahlen seitdem von einer Lust an den Dingen erzählen. Zusammen mit der Langen Nacht feierte man am Samstag dort auch eine lange Geschichte: 100 Jahre Deutscher Werkbund und damit ein Erbe, mit dem das Werkbundarchiv arbeitet und an dem es sich auch hin und wieder listig abarbeitet.

Denn man könnte sich in dieser langen Tradition auch ganz anders in Szene setzen. Aber an diesem Abend wurden auch die selbst irgendwie sachlich funktionalen Bockwürstchen nicht auf den Stapelgeschirrlegenden von Bauscher oder Schönwald gereicht, sondern auf schlichtem Imbissgeschirr.

Einem wirklich flüchtigen Ding. „Plastik“, so hat es der großartige Roland Barthes, den man sich in seinem Regenmantel so wunderbar in dieser Gewerbeetage in der Oranienstraße vorstellen könnte, einmal geschrieben, „ist die erste magische Materie, die zur Alltäglichkeit bereit ist“. Auch das Museum der Dinge versteht es ganz nonchalant, Alltäglichkeiten zuzulassen. Und ist gerade deshalb ein magischer Ort.

Die seriell drapierten Vitrinen mit ihren fast 15.000 Exponaten schienen den Besuchern ein ums andere Mal wirkmächtige Déjà-vus zu bescheren. Menschen gingen durch die Sammlung. Und kamen gleichsam zu sich selbst zurück. „Weißt du noch …“ – „Das hatte ich damals auch!“ – „Guck mal, wie groß Handys mal waren!“ – „Immer bei Tante Hilde, genau diese Tasse …“ – „Was war mein Vater stolz auf so ein Radio.“ – „Das war aber echt so hässlich.“ Wer es ein wenig objektiver wollte, konnte sich von leidenschaftlichen Ding-Erklärern in die verbürgten Geschichten der Exponate einführen lassen.

Jeder Besucher war ein Zeitreisender in eigener Sache, Erklärung und Verklärung standen dicht an dicht. Während draußen im Innenhof das Oberkreuzberger Nasenflötenorchester, eine Horde fröhlich retardierter Jungs, die sich in ihrer Freizeit offensichtlich für Fußball, Alkohol und Sonnenbrillen interessieren, den Titelsong von Sophie Marceaus „La Boum“ nasenflötete – „Dreams are my reality“. Auch das war irgendwie passend für diese Nacht in einem Museum, in dem sich Konsumträume und der Traum einer aus den besseren Produkten geformten besseren Gesellschaft auch zu einem Sittengemälde der Bundesrepublik zusammenfinden. Denn ein Warenlager, voll gestellt mit kleinen und großen Utopien, auch das ist das Museum der Dinge.

Und vielleicht passt dieses Haus gerade deswegen so gut in die Oranienstraße mit ihren überbordenden Dingbotschaften und ihrer Verweigerung allzu eindeutiger Verortungen, in diese polysemischen Kiezmagistrale. An diesem Abend wurde in diesem Museum deutlich: unverkennbar Kreuzberg. Schwer vorzustellen, was aus den Dingen geworden wäre, wenn es sie tatsächlich, wie vor gar nicht langer Zeit einmal anvisiert, gemeinsam mit dem oberflächenästhetischen Vitra-Designmuseum in den Pfefferberg verschlagen hätte. CLEMENS NIEDENTHAL