Wie Fantasie sich schwindlig läuft

In seinem Roman „Armor“ verstrickt Marcus Braun nicht nur seine Figuren, sondern auch den Leser. Und irgendwie auch sich selbst

Als vor ein paar Jahren kurz nacheinander die beiden ersten Romane von Marcus Braun erschienen, war das Entzücken groß. Mit seiner virtuosen Sprachartistik, die sich elegant aller Bodenhaftung entledigte, hatte Braun den lang ersehnten ungewöhnlichen Ton in die junge deutschsprachige Literatur gebracht. Nach einem Intermezzo im Alltäglichen – sein dritter Roman „Hochzeitsvorbereitungen“ ist eine recht konventionelle Erzählung über die postpubertären Verwirrungen eines Zivildienstleistenden – scheint sich Braun mit „Armor“ nun wieder auf das zu besinnen, was ihm einmal Vergleiche mit Nabokov oder Franz Hessel einbrachte. So trügerisch und widerständig wie das Meer vor der bretonischen Küste, wo Brauns Geschichte spielt, ist auch die sprachliche Oberfläche des Romans. Immer aufs Neue tritt man in Untiefen, wird von Sprachstrudeln eingewickelt und verliert den Bezug zum Geschehen.

Das ist natürlich Prinzip. Denn nicht nur den Leser verstrickt Braun auf diese Weise in Widersprüche, sondern unwiderruflich verstrickt sind auch Fabien und Kate, die doch eigentlich nur einen Trip durch die sommerliche Bretagne machen wollen. Dass gleich zu Beginn ein kindskopfgroßer Stein bei voller Fahrt durch die Frontscheibe ihres Autos kracht und den Wagen fahruntüchtig macht, während – erstaunlich genug – die beiden Urlauber unversehrt bleiben, ist mehr als eine erzählerische Weichenstellung. Unverkennbar ist der Hinweis, dass nicht gut ausgehen wird, was hier in Gang gesetzt wird.

Die attraktive Studentin Isabelle liest das Pärchen am Straßenrand auf und bietet ihm Unterkunft auf ihrem Anwesen, das in seinen Ausmaßen und der angedeuteten Baufälligkeit genauso schleierhaft bleibt wie die Frage, was Isabelle an den wesentlich älteren Jacques bindet – sieht man von seinem Geld und der etwas makabren Tatsache ab, dass er der Vater ihres ersten Mannes ist, der vor einem Jahr in der nahen Bucht ertrunken ist. Eine ungute Atmosphäre liegt also über dem Ganzen, und Braun tut alles dafür, die Szenerie immer mysteriöser werden zu lassen.

Erst ist es nur das Fehlen einer Leiter, was den Besuchern am Morgen nach dem Unfall den Weg zurück ins Erdgeschoss des Hauses verwehrt. Dann ist es ein stummer Mechaniker, der über Tage die Reparatur des Wagens verschleppt. Hier gibt es kein Entkommen. Kein Wunder, dass der sich anbahnende Partnertausch kein prickelndes Ferienabenteuer wird (auch wenn die in den Sandstrand gegossene Nackte auf dem Cover des Romans das erotische Flair von Sonnencremewerbung imitiert), sondern tödlichen Ausgang nimmt. Wer am Ende wie stirbt und wer wen wie und warum ermordet, ist wiederum nicht so klar. Wie in einem Vexierspiel setzt Braun die Teile immer wieder zu neuen Handlungssträngen zusammen, um sie gleich darauf wieder zu verwerfen.

Nicht nur weil die Gespräche von Kate und Fabien mit Filmzitaten durchsetzt sind, ist Brauns Affinität zum Kino überdeutlich. Vor allem David Lynch mag Pate gestanden haben für das nicht zu entwirrende Übereinanderblenden von Realität und Imagination, das Brauns Figuren mehr und mehr zu Gefangenen ihrer Einbildungskraft macht. Während die sich an ihrer Fantasie schwindlig laufen, steht der Leser dem Geschehen allerdings zunehmend gleichgültig gegenüber. Zwar kann auch er nicht mehr sagen, was sich denn letztlich zugetragen hat in dem Haus an der bretonischen Küste. Im Grunde interessiert ihn das aber auch nicht: Zu offensichtlich ist die Absicht des Autors, Verwirrung zu stiften. Und zu grobmotorisch sind die sprachlichen Mittel, die er dazu verwendet. Wenn Braun für seine frühen Romane als eleganter Sprachartist gefeiert wurde, arbeitet er hier bedauerlicherweise nach der Holzhammermethode und drischt dabei zuweilen kräftig daneben. WIEBKE POROMBKA

Marcus Braun: „Armor“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 187 Seiten, 17,80 Euro