Im Hafendschungel

Die Hafensafari streift durch das Wilhelmsburger Reiherstiegknie. Zwischen Vergangenheit und Zukunft erzählen Kunstinstallationen von diesem Ort, der einfach vergessen wurde

von STEFANIE HELBIG

Viele waren noch nie hier. Wir stehen an der Bushaltestelle vor der S-Bahn Wilhelmsburg, um uns herum Plattenbauten. Kunst im Reiherstiegknie wollen wir uns ansehen. Eine Gruppe aus 20 Menschen hat sich hier eingefunden, die meisten etwas älter, doch auch fünf Mittzwanziger und einer, der aussieht wie ein französischer Künstler. Er hat eine Schiebermütze auf und enge Hosen mit Streifen darauf an. Eine kleine Sozialstudie darüber, denke ich, wer sich so alles in den verrufenen Stadtteil Wilhelmsburg hinaustraut.

Jedes Jahr lädt die Hafensafari ein an Orte im Hamburger Hafen, die vor einer Veränderung stehen. 2003 ging es um die Hafencity, das heutige Vorzeigeprojekt der Stadt. Hier wurde eine schicke Büro- und Wohnsiedlung aus dem Wasser gestampft. 2006 war Neuhof unter der Köhlbrandbrücke das Thema, einst ein Wohnviertel, heute nur noch durch die Ölmühle bekannt. Mittlerweile ist es die fünfte Safari durch den Hamburger Hafen, der gern als „Herz der Stadt“ bezeichnet wird, doch abseits von Hafenrundfahrten oft unbekannt ist.

Wie auf Safari

Im Bus bekommen wir eine Stadtteilführung von Heike Lorenz, unserer Führerin für heute Abend. Mit sechs Bekannten organisiert sie ehrenamtlich diesen Rundgang – mittlerweile schon zum fünften Mal. Hauptberuflich sind sie Landschaftsarchitekten, Graphiker und Journalisten, nebenbei erkunden sie unbekannte Orte.

Ein bisschen fühle ich mich wirklich wie auf Safari. 20 Köpfe drehen sich immer in die Richtung, in die Lorenz zeigt: „Diese Häuser werden bald saniert, die Schalldämmung muss verbessert werden“, sagt sie und deutet auf eine Reihenhaussiedlung aus den 50er Jahren. „Aha, aha“, raunt es aus der Menge. Neben uns sitzt eine Inderin mit Kindern, ein Mann, dessen Gesicht tiefe Falten hat, obwohl er noch nicht alt aussieht, ein hoffnungslos aus dem Fenster blickender türkischer Großvater.

Diese Menschen sitzen um uns herum und ich überlege, was sie wohl von uns halten. Wahrscheinlich lachen sie über uns, die wir uns aus Eppendorf oder Ottensen über die Elbe getraut haben – um uns ihr Zuhause erklären lassen und „Ah“ und „Oh“ machen, als wären wir in einem Zoo.

Sozialer Vogelbau

Drei Haltestellen weiter stehen wir auf dem Bonifatiusplatz: Eine Kirche, drum herum Gründerzeithäuser und Vogelgezwitscher. Das kommt aus einem langen Holzkasten mit Löchern. Sozialer Vogelbau nennt sich das Kunstwerk, das Platz für 72 Vögel bietet. Die Installationen beziehen sich direkt auf ihr Umfeld. „Im Frühjahr machen wir eine Ortsbegehung und die Künstler können ihre Ideen vorstellen“, sagt Heike Lorenz.

Stübens Volksgarten

Wir laufen weiter durch Gestrüpp, steigen über Zäune, die schon lange zusammengefallen sind. Auf einer Wiese, zwischen Speichern und Kieshaufen, flattern Sonnenschirme im Wind. Sie sind gestanzt mit den Umrissen von Blättern. „Hier war einmal Stübens Volksgarten“, erklärt Lorenz und zeigt uns Fotos. Es ist kaum zu glauben, dass hier einst „10.000 Sitzplätze, Spielplatz, Schiffsanleger direkt am Etablissement“ gelockt haben sollen, wie eine Werbung vom Anfang des letzten Jahrhunderts sagt.

„Durch die Ausdünstungen der Raffinerien verloren die Bäume ihre Blätter, deshalb hat man Sonnenschirme aufgestellt“, erzählt unsere Führerin. Nun steht man im Nichts, und die letzten, die noch an die Zeit von Stübens Volksgarten erinnern, sind die Sonnenschirme von Brigitte Kratshmayr und Susanne Dettmann. Bald sind auch sie wieder weg. Stattdessen soll hier ein Parkplatz für die Internationale Gartenschau (IGS) entstehen. Was danach mit dem Platz passieren soll, ist noch unklar. Stübens Volksgarten aber wird komplett verschwinden.

Das alte Wilhelmsburg

Ich schaue in einen Spiegel und sehe nichts als schwarze Flecken. Erst bei genauerem Hinsehen erkenne ich ein Gründerzeithaus. „Hier wurden Fotos vom alten Wilhelmsburg auf Spiegelfolie gedruckt“, erklärt uns Lorenz. Der Zuschauer sieht die Vergangenheit durch die Spiegelung die Gegenwart und durch sich selbst die Zukunft“, erklärt Lorenz das Kunstwerk „Zeitgeist“ von Arne Lösekann und Julia Hofmann.

Wie schön Wilhelmsburg einst gewesen sein muss, dieser Gedanke kommt mir immer wieder. Von einem Wasserturm gehen wir über eine Brücke, direkt auf ein Eisenbahngleis zu. „Hier war einst eine Achse, die man gerade entlangschauen konnte. Dies war eine belebte Straße“, erklärt Lorenz. Heute stehen sich hinter den Gleisen kastenartige Nachkriegsbauten und auf dem Firmengelände findet sich nicht der geringste Hauch von Leben.

Neues Leben

Doch das soll neu einziehen. Ab der nächsten Wahlperiode wird Wilhelmsburg zu Mitte gehören. Die Pläne sind allseits bekannt, und doch ist es wahr, was Christine Kahle sagt: „Wilhelmsburg liegt direkt vor der Haustür, und doch kennen die meisten Hamburger es nur als Transitland, weil die Züge durchfahren.“

Auf der nächsten Wiese wird gerade die Bühne für das Dockville-Festival aufgebaut. Kräne lassen Dixiklos hinunter, Menschen rufen Anweisungen, laufen herum, haben keine Zeit. In zwei Tagen werden hier Hunderte mit Inga Humpe auf der Bühne tanzen oder zu Tocotronic mit dem Kopf nicken. Noch wird gearbeitet und gehofft, dass alles klappt. Ein Symbol für die Vorgänge in diesem Viertel.

Den Ort in Ruhe lassen

Nicht alle finden das gut. „Ich weiß nicht, ob das im Sinne der Menschen ist, die hier leben“, spricht ein Besucher einen oft geäußerten Kritikpunkt an. „Aber dieses Viertel wurde nach der Flut einfach aufgegeben. Was ist so schlimm daran, es wieder aufzubauen?“, meint ein anderer.

So gehen wir den Rückweg, vertieft in Fragen. Ob wir uns selbst auf die Schippe nehmen, indem wir für die Kunst an Orte kommen, an die wir sonst nicht einmal denken. Ob man Wilhelmsburg nicht einfach in Ruhe lassen sollte, damit die Mieten niedrig bleiben und die Leute, die bereits hier wohnen, nicht vertrieben werden. Oder ob es besser ist, Entwicklung zu beschleunigen, weil dann auch diejenigen Perspektiven fänden.

„Es wird so cool“

Am Wochenende, als ich beim Dockville-Festival bin, ist es wieder, als stünde rundherum eine Spiegelfolie, in der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft treffen. Ob das auch die beiden Männer spüren, die sich da mit ihrem Bier an ein Kunstwerk lehnen und sagen: „Ich glaube, jetzt wo Wilhelmsburg so cool wird, sollte man hier auch mal gewohnt haben“?