Proletariergesänge und Wolkenwatte

ERÖFFNUNG ALMANCI Im Ballhaus Naunynstraße begann das Festival, das auf 50 Jahre Migration aus der Türkei zurückblickt

Wer in der Geschichte buddelt, der findet. Das Theaterfestival „Almanci! 50 Jahre Scheinehe“ gräbt in der türkischen Migrationsgeschichte, die 1961 mit dem Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei begonnen hat, und fördert eine Figur zutage, die lange nicht mehr auf hiesigen Bühnenbrettern zu sehen war: den Arbeiter.

Im Eröffnungsstück des Festivals, einer nur zwanzigminütigen Kammeroper von Aras Ören (Text) und Alper Maral (Musik), hat der Schauspieler Ayhan Sönmez sich einen braunkarierten Anzug jener Machart zugelegt, wie ihn in den 1960er und 1970er Jahren Männer auf dem Wege von Anatolien nach „Deutscheland“ trugen, um dort Werftarbeiter, Autobauer und Bergleute zu werden. Es wird das beste Stück Stoff gewesen sein, in das sich diese Männer hüllten, ganz so, als hielten sie die Welt der Arbeitskluften nur für ein Zwischenstadium auf dem Weg ins kleine bürgerliche Glück.

In solch einem Anzug erzählt Sönmez von einem Türken, der durch die verschneite Naunynstraße zur Nachtschicht läuft, dabei aber in Gedanken zum Blaufischfang in der Bucht von Bebek schreitet. Und dazu blasen die Bläser der kleinen Kapelle die Luft durch den Treppenschacht des Ballhauses; etwas von der Wehmut südlicher Gegenden weht herein, aber auch der Stakkato-Ton Brecht-Weillscher Proletariergesänge – vergessene, verdrängte, überlagerte Historie.

Wichtigster Programmpunkt des Auftakts des Festivals ist die Inszenierung „Pauschalreise“. Dieser Abschluss von Lukas Langhoffs Trilogie über türkische Einwanderergenerationen beschäftigt sich mit der ersten, der angeworbenen Generation. Sie schlägt aber auch den Bogen zu den Enkeln. Vielleicht ist sie genau wegen dieses versöhnenden Charakters in einer Art Himmel angesiedelt. Mit Wolkenwatte ausgelegt ist jedenfalls der Boden. Auf den Rundhorizont sind ein blauer Himmel und weiße Wolken aufgemalt. In Form eines Reigens sind verschiedene Episoden geordnet, die von Enkeln und Großeltern durchschritten werden. Die junge Kader Arslan beklagt gegenüber ihrem Großvater (Nuri Sezer) die Konventionalität des Migrantenmilieus. „Warum werden wir, wir junge Menschen mit Migrationshintergrund, kaum dass wir in das Leben eintreten, langweilig, farblos, uninteressant, träge, gleichgültig, unnütz und unglücklich?“, fragt sie und konstatiert: „Wir sind seit fünfzig Jahren hier, unsere Familie hat vierzig Mitglieder, aber es findet sich nicht einer darunter, der anders wäre als die andern, nicht einer, weder einst noch jetzt, der heldenmütig für eine allgemeine Sache eingetreten wäre.“

Von Alltagsbitternissen komödiantisch erzählen

Das ist eine Beobachtung, die an sich nicht überrascht; es verblüfft nur, dass der Stückeschreiber Hakan Savas Mican sie in den öffentlichen Raum stellt. Genau andersherum verteilt sind Sympathien in der zweiten Episode. Die beleibte und verschmitzte Sema Poyraz, in den 1970er Jahren erste türkische Studentin an der DFFB überhaupt, erteilt der Handlangerin einer Immobilienfirma, famos gespielt von Duygu Sebnem Ince, eine prächtige Abfuhr. Kernstück schließlich ist die Geschichte einer Mutter, die auf der Jagd nach dem in Deutschland leichter zu erreichendem Geld ihren Sohn zur Schwester in die Türkei gibt und ihn als ein psychisches Wrack zurückerhält. „Pauschalreise“ erzählt komödiantisch von Alltagsbitternissen, die nicht nur deutsche Türken treffen können, die aber durch die Konstellationen von Migration häufiger produziert werden.

Unverständlich bleibt nur, warum bei dieser Eigenproduktion der Aspekt der aus politischen Gründen aus der Türkei geflohenen Menschen, von denen nicht wenige noch heute rings um die Naunynstraße wohnen, außer Acht blieb.

Hier hätte die Enkelin aus der ersten Episode vielleicht doch den einen gefunden, der die vierzig Gleichen an Mut und Eigensinn überragt. Aber gut, ein einzelnes Theaterstück kann nicht die fünfzig Jahre Migrationsgeschichte detailliert ausbreiten, die von den anderen Kulturinstitutionen weitgehend ignoriert werden. Insofern ist „Almanci! 50 Jahre Scheinehe“ dann doch ein echtes Leuchtturmfestival.

TOM MUSTROPH

■ „Pauschalreise“: wieder vom 7. bis zum 10. September