„Immer droht alles einzustürzen“

WANDEL Der Ukraine-Konflikt hat seine Haltung zum Westen verändert, sagt der Schriftsteller Eugen Ruge. Ein Gespräch über einen neuen Kalten Krieg, Schreibkrisen und darüber, wie Routine die Fantasie beflügelt

■ 60, hat 2011 mit seinem Debütroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ den Deutschen Buchpreis gewonnen. Zuletzt erschien die Novelle „Cabo de Gata“. Ruge lebt in Berlin und arbeitet derzeit an seinem nächsten Roman.

■ Weihnachten feiert Ruge mit der Familie, aber nicht „als Konsumfest“. Am vierten Advent kommen Kinder und Enkel zusammen und es gibt Klostergans. Den 24. verbringt er im ganz kleinen Kreis, „da gibt es Neunerlei nach thüringischer Tradition“, weil seine Frau aus Thüringen kommt. Geschenke gibt es nur für die Kleinsten. Für Ruge ist Weihnachten „vor allem ein Fest der Besinnung oder, wenn man so will, der Langsamkeit und insofern antikapitalistisch.“

INTERVIEW ANNE HAEMING

taz: Herr Ruge, es ist jetzt halb zwei. Wie viel Zeit haben wir für das Gespräch, eine Stunde?

Eugen Ruge: Ja – wenn es länger dauert, werde ich unruhig, weil ich heute noch was tun wollte.

Ich dachte, Sie arbeiten immer vormittags.

Eigentlich schon, aber wenn ich besonders unzufrieden bin, zieht es mich noch mal an den Schreibtisch.

In der Hoffnung, es kommt noch was?

Ja. Hoffnung entwickelt man ja in der Verzweiflung. Wer Optimist ist, braucht Hoffnung eigentlich nicht.

Inwiefern ist die Verzweiflung Vorbedingung für schriftstellerisches Schaffen?

Schriftsteller sind sicher oft besonders sensible Menschen. Sie nehmen die Probleme der Welt und die anderer Menschen genauer wahr und neigen deshalb zum Pessimismus. Wenn ich zum Pessimismus jedoch nicht auch Hoffnung hätte, bräuchte ich nicht mehr weitermachen. Was ich jetzt in der Welt erlebe, lässt mich zweifeln, wie es weitergeht. Ob es überhaupt weitergeht. Gerade fängt der Kalte Krieg wieder an, die Gefräßigkeit des globalisierten Kapitalismus ist enorm, was an Umweltproblemen auf uns zukommt, ist kaum abzusehen.

Das klingt eher resignativ – genau wie Ihr Text, mit dem Sie sich im Dezember im Spiegel zu Wort gemeldet haben. Unter der Überschrift „Die Hybris des Westens“ schrieben Sie, hinter der Haltung des Westens im Ukraine-Konflikt stecke nicht das Wohl der Krimbevölkerung, sondern geopolitisches Interesse. Die Amtierenden seien „borniert.“

Wenn ich keine Hoffnung hätte, würde ich so was gar nicht schreiben. Ich habe die Welt noch nicht ganz aufgegeben.

Hat sich Ihre Haltung in diesem Jahr verändert?

Es sind Ängste dazugekommen. Ukraine, Isis, TTIP: Das alles hat meine Haltung zur Globalisierung, zum Westen verändert, hat mich nachdenklicher werden lassen. Vor vier, fünf Jahren habe ich in meiner Döblin-Preis-Rede mit Blick auf Günter Grass, der den Preis stiftet, gesagt: Schriftsteller verstehen von Politik nicht mehr als andere. Ich finde es falsch, sich einzumischen. Das war das Gegenteil dessen, was ich jetzt selbst praktiziere. Ich bin offenbar besorgter als damals. Ich ärgere mich jedes Mal, wenn ich mich öffentlich äußere. Es ist eine für mich sehr unangenehme Arbeit, es bringt mich jedes Mal zwei Tage lang aus der Fassung. Zwei misslungene Tage sind viel. Es dauert immer, bis ich in den Modus des regelmäßigen Schaffens zurückkomme.

Wie wichtig sind diese Rituale?

Ein ritualisierter Ablauf bringt Gewöhnung mit sich. Wenn man sich zu einer bestimmten Uhrzeit und unter bestimmten Bedingungen an den Schreibtisch setzt, setzt Fantasie ein. Es funktioniert ja nicht so, dass man auf Inspiration wartet. Das kann man vielleicht als Lyriker.

Wie sieht Ihr Tagesablauf genau aus?

Ich sitze um acht am Schreibtisch, mit einer sehr großen Kanne sehr dünnem Kaffee neben mir. Ich arbeite bis um elf und gehe laufen, für eine Stunde, anderthalb. Dann schlafe ich ein bisschen, dann esse ich. Normalerweise habe ich am Nachmittag dann tausend Dinge zu tun, die auch mit der Arbeit zusammenhängen. Aber wenn ich mit meiner Arbeit am Vormittag nicht zufrieden bin, setze ich mich noch mal hin. Allerdings ist das Verhältnis zwischen zeitlichem Aufwand und Ertrag dann immer sehr schlecht.

„Viel Arbeit, wenig Fisch“, wie die Fischer in Ihrem „Cabo de Gata“ sagen.

Genau. Manchmal denke ich: Alles Quatsch, was du hier machst, kannste wegschmeißen. Schreiben ist ein krisenhafter Prozess. Nicht, dass man sich jedes Mal umbringen will, aber es droht immer alles einzustürzen.

Auch der Ich-Erzähler in „Cabo de Gata“ hält sich an Ritualen fest: Jeden Abend um acht geht er zum Briefkasten und wartet auf eine Katze. Eine Metapher fürs Schreiben?

Diese Figur versucht ja, den großen Roman zu schreiben. Und bricht dafür aus seinem Berliner Alltag aus, fährt nach Spanien – und fällt dort sofort wieder in eine Regelmäßigkeit zurück. Er wartet auf etwas, hofft auf ein Zeichen, etwas Übersinnliches. Und glaubt, er müsste aufhören, darauf zu hoffen, damit es klappt. Das wird zu einer spirituellen, ja fast religiösen Frage.

Sie selbst saßen mehr als eine Dekade an „Zeiten des abnehmenden Lichts“. Wie oft haben Sie die Idee weiterzumachen, komplett infrage gestellt?

Ich war manchmal so verzweifelt, dass es mir körperlich schlecht ging. Man ist dann eigentlich krank, kann tagelang nichts machen. Darüber spricht man nicht so gern. Das ist kein Zustand, in dem man existieren kann.

■ 36, ist taz-Autorin und behängt ihren Baum auch mal mit Löffeln, Origamitieren und Zimtsternen.

Muss man sich Hoffnung also leisten können – finanziell wie zeitlich?

Weiß ich nicht. Als ich angefangen habe zu schreiben, war ich finanziell in einer desaströsen Situation. Ich hatte noch ein bisschen was auf dem Konto, wusste, meine Theaterstücke liefen schlecht und wenn ich aufhöre, Hörspiele zu schreiben, um mich dem Roman zu widmen, versiegt auch diese Quelle. Es war vollkommen idiotisch, in dieser Situation den Roman anzufangen.

Waren Sie nicht sogar kurz davor, das Ihnen vererbte Ferienhaus auf Rügen zu verkaufen?

Ja, habe ich aber nicht. Weil ich zum großen Glück mit den ersten vier Kapiteln des Buchs den Alfred-Döblin-Preis gewonnen habe. Damit war das Problem erledigt.

Ihre Figuren in „Zeiten des abnehmenden Lichts“ haben alle die Hoffnung auf etwas anderes als inneren Motor: Die eine wandert aus Mexiko in die DDR aus, der andere hält marxistische Treffen ab, der Dritte flieht in den Westen …

… und dann nach Mexiko, in der Hoffnung, den Krebs loszuwerden. Die Hoffnung ist wie ein schlagendes Herz. Sage mir, was du hoffst, und ich sage dir, wer du bist.

Und dann haben Sie dem Roman ausgerechnet einen Titel verpasst, der all diese Träume konterkariert.

Ja, eigentlich gemein. Aber die Wirklichkeit arbeitet gegen die Menschen. Unser Tun ist nun einmal vergeblich, am Ende sind wir alle tot. Aber das Buch schließt ja nicht hoffnungslos ab. Der Schluss einer Geschichte sagt viel über den Autor: Wie viel Hoffnung will man dem Zuschauer, Zuhörer, Leser mitgeben? Die Sachen tragisch enden zu lassen, ist zu einfach. Happy Ends gehen erst recht nicht. Ich tariere – auch in meinen Theaterstücken – das Ende immer so lange aus, bis es meine Haltung zur Welt zeigt: die Balance zwischen Verzweiflung und Heiterkeit.