Anwalt der Unabhängigkeit

Sein Lebenslauf liest sich wie ein Geschichtsbuch des kleinen nordafrikanischen Landes: Vor 88 Jahren als Sohn eines Landwirtes und Enkels eines hohen Beamten des Osmanischen Reiches geboren, schloss sich Béji Caïd Essebsi Ende der 1930er Jahre der Jugendbewegung für die Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich an. Er studierte in Paris Jura, wurde Vorsitzender der „Muslimischen Studenten aus Nordafrika“. Als Anwalt kehrte er zurück und verteidigte Mitstreiter für ein souveränes Tunesien vor der Kolonialjustiz.

Nach der Unabhängigkeit wurde der junge Jurist Berater des ersten Präsidenten, Habib Bourguiba. Er stieg bis zum Innenminister auf. In den 1970er Jahren zog er als Botschafter seines Landes nach Frankreich, nachdem er auf Distanz zu Bourguiba gegangen war. Dessen Partei schloss ihn aus.

Anfang der 1980er feierte er sein erstes Comeback, wurde Außenminister unter Bourguiba. Als er erneut in Ungnade fiel, schickte man ihn 1986 als Botschafter nach Bonn.

Als der zweite Präsident Tunesiens, Zine el-Abidine Ben Ali, 1987 die Macht übernahm, feierte Essebsi sein zweites Comeback. Bald wurde er Präsident des völlig machtlosen Parlamentes. 1991 verabschiedete Essebsi sich erneut aus der Politik und ging zurück in seine Anwaltskanzlei.

Nach dem Sturz Ben Alis 20 Jahre später wurde er Premier der dritten Übergangsregierung. Unter seiner Regie fanden die ersten freien Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung statt, die die islamistische Ennahda gewann.

Essebsi gründete die Partei „Nidaa Tounes“, („Ruf Tunesiens“), die sich an unabhängige Demokraten, Gewerkschafter, aber auch an Mitglieder der ehemaligen Einheitspartei RCD wandte. Jetzt zieht er in den Präsidentenpalast ein. R. WANDLER