Jede Minute zählt

Mit den Methoden eines Betriebswirts hat ein Hildesheimer Kardiologe dafür gesorgt, dass weniger Mitbürger einem Herzinfarkt zum Opfer fallen

VON KARIN CHRISTMANN

„Es ist eindrucksvoll, wie viel ganz banale Änderungen bewirken können“, sagt der Hildesheimer Kardiologe Karl Heinrich Scholz. Sein großer Erfolg ist eine Zeitspanne von 76 Minuten: Sie vergehen für einen Hildesheimer Herzinfarktpatienten zwischen dem Moment, in dem er zum ersten Mal einen Notarzt zu Gesicht bekommt und dem Moment, in dem sein verstopftes Herzgefäß von den Ärzten erweitert wird. Zu Beginn des Jahres 2006 hatte diese so genannte contact-to-balloon-Zeit noch bei 129 Minuten gelegen. Ihren Namen trägt sie wegen des winzigen Ballons, der das verstopfte Herzgefäß erweitert, wenn ein Katheter gelegt wird.

„Ich war damals der Meinung, unser System wäre perfekt“, sagt Scholz heute. Eine integrierte Versorgungsstruktur gab es im Herzinfarktnetz Hildesheim-Leinebergland auch damals schon: Vom Rettungswagen aus wurde ein EKG, das die Aktivität der Herzmuskulatur aufzeichnet, in das Hildesheimer St.-Bernward-Krankenhaus gefunkt und von einem erfahrenen Kardiologen beurteilt. Lag ein so genannter ST-Hebungsinfarkt vor – der klassische Herzinfarkt, bei dessen Behandlung jede Minute zählt – kam der Patient ohne Umweg über die Notaufnahme direkt in das Katheterlabor, in dem die Ärzte so schnell wie möglich das verstopfte Herzgefäß mit einem Katheter erweiterten.

Um dieses System zu dokumentieren, begann Scholz’ Team akribisch Zeiten zu messen. Wie viel Zeit vergeht am Einsatzort? Wie lange dauert es, bis der Patient in der Klinik angekommen ist? Wie lange, bis der Katheter gelegt ist? Alle beteiligten Stationen der Rettungskette erfuhren genau, wie viel Zeit sie benötigten. Zu Scholz’ großer Überraschung sanken daraufhin diese Zeiten wie von Zauberhand. Von 129 Minuten im ersten Vierteljahr des Versuchs sank die contact-to-balloon-Zeit zuerst auf 90, dann auf 78 und im letzten Vierteljahr auf 76 Minuten.

„Sogar ich selbst bin schneller geworden, weil ich wusste, dass die Zeit gemessen wird“, sagt Scholz heute. Warum die Notärzte am Einsatzort durchschnittliche zehn Minuten einsparen konnten, kann Scholz nur vermuten. Es könne daran liegen, sagt er, dass sie mehr Maßnahmen unterwegs im Rettungswagen statt am Einsatzort ergreifen würden. Jetzt kann das Versorgungsnetz die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie von weniger als 120 Minuten einhalten und sogar die Zielmarke der European Society of Cardiology von weniger als 90 Minuten unterbieten.

„Time is muscle“ – Zeit rettet Herzmuskelmasse – sagen Mediziner: Je schneller und effektiver ein Patient behandelt wird und das verschlossene Herzgefäß wieder geöffnet werden kann, desto besser sieht die Prognose aus. Alle Beteiligten der Rettungskette darüber zu informieren, wie viel Zeit sie verbrauchen, war keine ärztliche Neuerung, sondern eher die Einführung eines betriebswirtschaftlichen Instrumentes. Kardiologe Scholz ist stolz darauf, wie er damit die Versorgung der Patienten verbessern konnte. Die integrierte Versorgungskette des Hildesheimer Herzinfarktnetzes, die es schon vorher gegeben hatte, ist jedoch nicht einzigartig. Auch andernorts wird versucht, durch eine bessere Koordination aller Helfer Zeit zu sparen und Leben zu retten. Alleine die Deutsche Herzstiftung, die sich für eine optimale Versorgung von Herzinfarktpatienten einsetzt, unterstützt vier derartige Projekte in Hamburg, Köln, Herne und Bad Homburg.

Herz-Kreislauf-Krankheiten sind in den westlichen Ländern noch immer die Todesursache Nummer eins. Die Risikofaktoren sind bekannt: Übergewicht, Rauchen und Bewegungsmangel erhöhen die Chancen, in den Händen der Notfallmediziner zu landen. Von den beinahe 300.000 Deutschen, die jedes Jahr einen Herzinfarkt erleiden, sterben mehr als 170.000 an den Folgen. Auch das beste Versorgungsnetz kann nur helfen, wenn ein Patient oder Augenzeuge den Rettungswagen alarmiert. Viel zu oft, sagt die Deutsche Herzstiftung, würde aus Angst vor falschem Alarm abgewartet.