Echt ätzende Erinnerung

Erneut hat die Polizei „Etchings“ – geätzte Graffiti – entdeckt, bei denen angeblich die gefährliche Flusssäure verwendet wurde. Die gibt’s nur im Internet und wird lediglich von Spinnern benutzt

„Wer wirklich mit Flusssäure hantiert, ist dumm“

VON NINA APIN
UND KLAUDIJA SABO

Die Serie von Attacken mit Flusssäure auf U-Bahnhöfe reißt nicht ab: Am Montag entdeckten BVG-Mitarbeiter wieder Spuren der giftigen Chemikalie an Glasscheiben und Treppenaufgängen. Die Polizei spricht von 47 Fällen dieser Art in diesem Jahr.

Bei den in Glas geätzten Zeichen und Buchstaben handelt es sich vermutlich um „Etching“, eine extrem gesundheitsgefährdende Variante von Graffiti, bei dem mit säuregefüllten Textmarkern in Glasscheiben geätzt wird. Das Ergebnis sind milchig weiße Spuren im Glas, die nie wieder weggehen – und sehr gefährlich sind. Denn bereits eine flüchtige Berührung mit der Säure führt zu schweren Verätzungen von Haut und Knochen.

Wie aber kommen Hobbypinsler an den Fluorwasserstoff, der normalerweise von Schutzkleidung tragenden Profis in der Glas- und Metallverarbeitung verwendet wird? In Baumärkten, Apotheken und im Glasfachhandel erhält man Flusssäure offiziell nur nach Vorlage einer Bescheinigung, die zum Umgang mit „Giftschrank“-Substanzen berechtigt – wenn sie überhaupt vorrätig ist. „Flusssäure gibt es nicht mehr im offenen Verkauf“, bestätigt der Verkäufer eines Glasfachgroßhandels in Kreuzberg. Vor anderthalb Jahren hätten die Hersteller auf weniger gesundheitsschädliche Säuren zum Glasätzen umgesattelt, Flusssäureprodukte biete man gar nicht mehr an.

Die in Hobby- und Bastelläden erhältlichen Produkte zum dekorativen Glasätzen enthalten laut Auskunft einer Bastelladenbetreiberin in Schöneberg schon seit über zehn Jahren keine Flusssäure mehr, sondern die wesentlich sanftere Satinierfarbe, die durch Backofenhitze in das Glas eingebrannt wird. Selbst im „Overkill“-Shop, dem Bedarfsladen für die Sprayerszene, der mit besonders schwer entfernbaren Markern und lang haftender Sprühfarbe wirbt, will man von Flusssäure nichts wissen. „Die ist extrem gesundheitsschädlich, strengstens verboten und es gibt sie legal nirgends zu kaufen“, lautet die Auskunft.

New York, Barcelona und andere Metropolen machen es vor: Etching ist dort seit Jahren eine von vielen Varianten, mit denen ein „Writer“ (= Graffitikünstler) seinen „Tag“ (= Namenszug) im Stadtbild verewigt.

Im Gegensatz zum Scratching, bei dem mit scharfen Gegenständen ins Glas gekratzt wird, frisst sich Säure selbst durch die cleverste Scheibenbeschichtung. Der Ätz-Trend ist anscheinend dabei, nach Deutschland überzuschwappen: Nicht nur Berlin ist betroffen, auch Köln klagte letztes Jahr über eine Etching-Welle, zum Teil wurde dabei Flusssäure verwendet.

Diese wässrige Fluorwasserstofflösung ist besonders gefährlich: Der Hautkontakt mit nassen oder feuchten Säure-Tags führt zu schweren Verätzungen. Also während des dreistündigen Trocknungsprozesses – und jedes Mal wieder beim Putzen der neu gestalteten Scheiben in U- und S-Bahnhöfen. API

Um zu erfahren, wie die Flusssäure doch noch an die Wände kommt, hilft ein Blick ins Internet: Beim Internetanbieter SuboLab kann man zum Beispiel 500 Milliliter Flusssäure für 15,50 Euro erwerben – und sich bequem per Post nach Hause schicken lassen. Auch Polizeipressesprecher Bernhard Schodrowski vermutet, dass die Hauptbezugsquelle für Flusssäure das Internet ist. „Wir beobachten das“, sagte er der taz. Für die Ehrenrettung der Graffitiszene fügte er hinzu, dass Etching in der Szene umstritten sei. Nicht alle Street-Art-Aktivisten unterstützten die massive Gefährdung unbeteiligter Personen.

Dass das Etching aber bald wieder aus dem öffentlichen Raum verschwindet, schließt ein Kenner der Street-Art-Szene aus. In Metropolen wie New York und Barcelona sei das Ätzen von Namenszügen schon lange gang und gäbe, in Berlin finge der Hype erst an. Er bezweifelt jedoch, dass für alle Ätzgraffiti in Berliner U-Bahnhöfen die giftige Flusssäure verwendet wurde: „Der Reiz beim Etching ist vor allem ein ästhetischer“, meint er. An den verätzten Stellen werde das Glas milchig und rau, die Schrift wirke besonders flüssig. Diesen Effekt könne man auch mit einem handelsüblichen Glasätzstift erzielen. „Wer mit Flusssäure hantiert, ist dumm – oder verfolgt andere Ziele.“