Die Wahrheit ist eine Schnecke

Mitten im afrikanischen Busch erhielt die Reporterin eine Handynummer. Es war die Nummer des Präsidenten der Terrortruppe FDLR, und sie führte zur ihrem Erstaunen aus dem Ostkongo direkt nach – Mannheim. Heute, fünf Jahre später, sitzt Susanne Babila beim Stuttgarter Oberlandesgericht auf der Presse- und Ignace Murwanashyaka auf der Anklagebank. Es ist der erste Völkerrechtsprozess in Deutschland, der hier vor dem Fünften Strafsenat verhandelt wird

von Susanne Stiefel

Die Gegenfrage ist schneidend. „Sie sind Susanne Babila?“, blafft Ricarda Lang, „mit Ihnen rede ich nicht.“ Die Verteidigerin sitzt auf der Treppe vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht. Der Übersetzer hat sich mal wieder verspätet, ohne ihn kann der Prozess nicht beginnen. Und so wartet Ricarda Lang wie alle Beteiligten auf den Beginn der Verhandlung. „Sie sind doch voreingenommen“, schiebt sie nach.

Die SWR-Reporterin ist verblüfft. Sie hat den Angeklagten bei ihren Recherchen zum Ostkongo kennengelernt. Nun will sie die Pause nutzen, um mit der Verteidigerin des FDLR-Führers Ignace Murwanashyaka eine Zwischenbilanz zu ziehen. Susanne Babila ist Journalistin. Sie weiß, dass Recherche bedeutet, beide Seiten zu hören, die Bundesanwaltschaft ebenso wie die Verteidigung. „Lesen Sie die Pressemitteilung“, sagt die Verteidigerin und vertieft sich demonstrativ in ihre Unterlagen. Der Ton ist harsch beim Völkerrechtsprozess in Stuttgart.

Der Völkerrechtsprozess in Stuttgart lässt keinen kalt

Es ist schwer, über diesen Prozess zu schreiben, ohne emotional zu werden. Weil es fast unmöglich ist, über Massenvergewaltigungen, Verstümmelungen, Folter und Massaker zu berichten, ohne berührt zu sein. Denn genau dies verbirgt sich hinter den nüchternen Zahlen der Anklageschrift: 26 Verbrechen gegen die Menschlichkeit und 39 Kriegsverbrechen im Ostkongo. Den beiden FDLR-Funktionären Ignace Murwanashyaka und Straton Musoni wird vorgeworfen, als Präsident und Vizepräsident der Forces Démocratiques de Libération du Rwanda (FDLR) verantwortlich zu sein für diese im Busch begangenen Gräueltaten. Das lässt niemanden kalt.

Das Medieninteresse beim Prozessauftakt im Mai war riesig. Schließlich läuft in Stuttgart der erste Prozess nach dem neuen Völkerstrafrecht von 2002, das es erlaubt, in dem Land zu verhandeln, in dem die Angeklagten leben. Die FDLR-Chefs wohnen seit Jahren in Mannheim beziehungsweise Neuffen. Heute, ein Vierteljahr und viele Verhandlungstage später, verirren sich kaum noch Journalisten in den Saal. Der Prozess verläuft schleppend langsam, der Fünfte Strafsenat des Oberlandesgerichts verhandelt mit vorsichtiger Geduld, um ja keine Fehler zu machen. So wird die Wahrheit zu einer Schnecke.

Susanne Babila hofft, dass diese Schnecke dennoch ans Ziel kommt. Sooft sie kann, sitzt sie in diesem nüchternen Gerichtssaal in der Stuttgarter Olgastraße. „Was hier passiert, ist enorm wichtig“, sagt die 48-Jährige, „für die Menschen im Kongo und für Deutschland.“ Hier in Stuttgart wird sich erweisen, ob ein Völkerrechtsprozess in Deutschland zu einem gerechten Urteil führen kann.

Für die Journalistin ist dies auch persönlich ein besonderer Prozess. Vor fünf Jahren recherchierte sie mit einem Kameramann im Ostkongo die Situation von Frauen im Bürgerkrieg. Sie traf auf zerstörte Leben, auf Frauen, die vergewaltigt und verstümmelt worden waren, gequält und systematisch vergewaltigt, auf Mädchen, die dasselbe erdulden mussten. Sie traf auf einen kongolesischen Arzt, der in seiner Klinik in Bukavu allem Druck zum Trotz diese Frauen und Mädchen unter schwierigsten Bedingungen operierte und vielen das nackte Leben rettete. Die Seele jedoch kann auch der beste Chirurg nicht zusammenflicken. Sie traf, auf der Suche nach den Tätern, auf die Terrortruppe FDLR, hervorgegangen aus Hutu-Milizen, die 1994 den Völkermord in Ruanda verübten. Und sie traf schließlich auf den Mann in Deutschland: auf Ignace Murwanashyaka.

Wenn Babila von dieser Begegnung erzählt, ist ihr Erstaunen auch fünf Jahre danach noch deutlich zu spüren. Sie wollte mit den Milizionären der FDLR sprechen, und dazu brauchte sie die Zustimmung des Präsidenten. Als Babila unter der Handynummer anrief, die ihr der FDLR-Pressesprecher mitten im Busch überreichte, wurde ihr freundlich und in bestem Deutsch geantwortet. „Ich dachte, ich falle in Ohnmacht“, sagt Babila.

Diese Reporterin ist das, was man eine engagierte Journalistin nennt, eine, die wissen will, was die Welt bewegt und wer hinter Ungerechtigkeiten und Missständen steckt. Afrika liegt ihr besonders am Herzen. „Der Kontinent ist ein blinder Fleck in der Berichterstattung“, sagt sie. Den will die Reporterin beleuchten, ohne durch die weiße Brille zu schauen, die Afrika nur scannt in Hinblick auf eigene wirtschaftliche Interessen oder darauf, ob von einem Konflikt Weiße betroffen sind. Sieben Jahre lang war Susanne Babila mit einem Kameruner verheiratet, lebte abwechselnd in beiden Ländern, bis er sich für Kamerun und sie sich für Deutschland entschied. Doch da war ihre Neugierde auf den fremden Kontinent längst geweckt.

Seit 1999 arbeitet Susanne Babila beim Südwestrundfunk. Sie recherchierte für Filme über die Gastarbeiter und das Altwerden in der Fremde, über erfolgreiche Töchter, die als Türkinnen in Deutschland Karriere machten, oder über Ehrenmorde. Sie bereiste Kamerun, den Tschad. Und den Kongo.

„Im Schatten des Bösen“, der Film über das Leid der Frauen im Kongo, wurde auf Arte ausgestrahlt. Dass er überhaupt produziert wurde, grenzt an ein kleines Fernsehwunder. Auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten haben lieber Gottschalk im Programm als Gräueltaten. Es erforderte Babilas ganze Hartnäckigkeit und viele Monate, bis ihr Exposé abgesegnet war und sie den Film drehen durfte. In der deutschen Fernsehlandschaft ist eine wie Susanne Babila so selten wie Wasser in der Wüste. 2008 wurde ihr der Deutsche Menschenrechtsfilmpreis verliehen, ein Jahr später der Marler Fernsehpreis für Menschenrechte.

Nach diesem Film fiel das Wegschauen schwer. „Im Schatten des Bösen“ wurde in der Europäischen Kommission gezeigt und im Menschenrechtsausschuss des Bundestags, dessen Vorsitz damals Herta Däubler-Gmelin innehatte. Die ehemalige Justizministerin fuhr anschließend selbst in den Kongo und sorgte mit dafür, dass das Thema nicht mehr totgeschwiegen werden konnte. UN und Amnesty International starteten große Kampagnen. Nach diesem Film konnte man die Menschenrechtsverletzungen nicht mehr als undurchsichtige Stammeskonflikte irgendwo in Afrika verharmlosen. Jetzt war klar, dass der Chef einer der beteiligten Milizen in Deutschland saß.

Wer die beiden Angeklagten im Gerichtssaal in Stuttgart sieht, kann kaum glauben, dass diese zwei freundlichen Herren Kriegsverbrecher sein sollen. Vor allem der FDLR-Chef gibt sich ganz als der nette Mann von nebenan. Mit einem Dauerlächeln folgt Murwanashyaka dem Prozess, das Kreuz immer gut sichtbar am Hals, stets in ein fliederfarbenes weites Hemd gekleidet. Immer wieder springt der 48-Jährige auf, um seiner Verteidigung etwas zu zeigen, oder mischt sich ein in die Übersetzungen. So wird der Angeklagte mit der Nickelbrille zum Belehrer des vom Gericht bestellten Übersetzers.

Weder Blindheit noch Voreingenommenheit

E-Mails und Telefonate sollen die Verantwortlichkeit der Angeklagten beweisen. Doch mit allerlei Spitzfindigkeiten versucht die Verteidigung, an der Glaubwürdigkeit des Übersetzers zu rütteln. Besonders absurd wird es, wenn die Verteidigerin Ricarda Lang Überlegungen anstellt, ob man das Wort vita mit „Kriegführung“ übersetzen soll, wie es auf Swahili heißt, oder mit „Lebensführung“, was Lateinkenntnisse voraussetzen würde. „Kein Mensch im Kongo spricht Latein“, sagt Susanne Babila. Die Wahrheitsfindung kommt nur schleppend voran.

Wenn man das alles gesehen hat, die Toten, die vergewaltigten Frauen, den lächelnden Angeklagten: Kann man da noch unbefangen berichten von diesem Prozess? Hat die Verteidigerin Ricarda Lang also doch recht? Susanne Babila lacht: „So zu reden ist ihr Job“, sagt sie. „Nein, sie hat natürlich nicht recht: Ich bin Journalistin, nicht Menschenrechtsaktivistin.“ Engagierter Journalismus heißt weder Blindheit noch Voreingenommenheit. „Es kommt doch nicht darauf an, ob ich den Angeklagten nett finde“, entgegnet Babila provokativ. Wichtiger ist ihr der Schutz der Zeugen. Viele trauen sich nicht, in Deutschland auszusagen, weil sie um ihr Leben fürchten und um das ihrer Angehörigen. Was hier vor Gericht gesagt wird, findet schnell seinen Weg in das zentralafrikanische Land. Und mit dem Zeugenschutz steht und fällt dieser Prozess.

Susanne Babila wird den Prozess weiterverfolgen, mit kühlem Verstand und heißem Herzen. Und mit der großen Hoffnung, dass man in Deutschland, hier in Stuttgart, zu einem gerechten Urteil findet. Und dass die Anführer der Terrorgruppe haftbar gemacht werden für die Gräueltaten, die unter ihrer Führung im Kongo verübt wurden. Vorgesetztenverantwortlichkeit nennen dies die Juristen rechtlich distanziert. „Das wäre“, sagt Babila, „ein Signal an Afrika.“