Kommentar von Josef-Otto Freudenreich
: Die Herren des Morgengrauens

Grüne Gurken „Nun fordern viele S-21-Gegner, Ministerpräsident Winfried Kretschmann müsse seine Stimme erheben und diesem Treiben Einhalt gebieten. Das ist falsch…“ Dieses inhaltlich falsche Fazit kann ich mir lediglich so erklären, dass Sie damit Schaden (in Form von z. B. Durchsuchungen; sprich: Einschüchterungen) von der Kontext-Redaktion abwenden wollen. Die dem Fazit immanente Naivität, lieber J-O Freudenreich, nehme ich Ihnen nämlich nicht ab; sonst nähme ich Sie und Ihre Arbeit bislang ja gar nicht mehr ernst. Denn das Einschreiten gegen Amtsmissbrauch und Rechtsbeugung ist nicht lediglich eine Frage der Courage der Verursacher selbiger; außer Rand und Band geratene Staatsanwaltschaften sind durchaus auch zu weisungsgebundem Handeln anhaltbar (Justizministerium). Und der Chef des Justizministers ist wer? – Eben. Kretschmann sollte nicht nur seine Stimme als MP erheben; er muss es. Unverzüglich. Tut er es nicht, billigt er die gräulich-schwarzen Praktiken, die u. a. an denen vollzogen werden, die ihn in den Sattel hoben. Mal abgesehen davon, dass man ihm dann und so auch den Habermas’schen Verfassungspatrioten nicht länger abnehmen kann. Die Uhr läuft für Kretschmann und seine Grüne-Gurken-Truppe: Es ist 5 vor „LGNPCK“. canislauscher

Geradezu grotesk Vor einigen Monaten gab es in Baden-Württemberg anlässlich der Geschehnisse am 30. 09. 2010 im Stuttgarter Schlosspark einen Untersuchungsausschuss. Der sollte klären, ob und inwieweit der damalige Ministerpräsident auf das operative Geschäft der Polizei Einfluss genommen hatte. Ich finde es geradezu grotesk, nun genau dieses Verhalten von unserem neuen Ministerpräsidenten zu fordern. Denn dann wäre er in meinen Augen keinen Deut besser als der gottseidank abgewählte. Und, wenn man die Rechtsprechung verfolgt, sind inzwischen durchaus Anhaltspunkte dafür zu sehen, dass sich einige Richter nicht mehr einfach so vor den Karren eines gewissen Oberstaatsanwalts spannen lassen. samtpfote

Der 20. Juni war keine Party. Ein Polizist ist verletzt worden, wie schwer auch immer. Das ist nicht zu tolerieren, und manches, was S-21-Gegner unter dem Mantel des Demonstrationsrechts veranstalten, auch nicht. Aber rechtfertigt das die Härte, mit der die Staatsanwaltschaft gegen Demonstranten und Berichterstatter vorgeht?

Erstaunlich, dass Heinrich Steinfest noch nicht vorgeladen worden ist. Der Schriftsteller ist ein Mann der scharfen Beobachtungsgabe und kann beurteilen, was er gesehen hat. Nachzulesen in der Ausgabe Nummer 12 der Kontext:Wochenzeitung, in der er seine Eindrücke vom 20. Juni geschildert hat. Zwei Sätze zum Nachdenken nur: „Die Schwierigkeit mit der Wahrheit ist immer, dass sie niemals nackt ist, immer angezogen. Aber wir haben die Pflicht, zumindest das Kostüm, das sie trägt, richtig zu beschreiben und nicht mit ihr zu verfahren, als wäre sie eine willfährige Barbiepuppe, der jeder einen beliebigen Fetzen überziehen darf.“

Aber Steinfest haben sie noch nicht einbestellt in die Stuttgarter Hahnemannstraße, wo so eifrig ermittelt wird, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Finanzjongleure, Steuerhinterzieher, Mafiamitglieder oder vielleicht die Wasserwerfer vom 30. September 2010 – still ruht der See. Stattdessen wird das einfache Volk zum Verhör gezwungen und mit Beschuldigungen traktiert, die es bisher nur aus den finsteren Ecken krimineller Elemente kennt. Schwerer Raub, schwere Körperverletzung, schwerer Landfriedensbruch. Fehlt eigentlich nur noch die kriminelle Vereinigung. Das stärkt das Vertrauen in den Rechtsstaat ungemein.

Ein Pfeiler dieses Rechtsstaats ist die Freiheit der Presse. Nicht von ungefähr haben ihr die Väter der Verfassung eine konstituierende Funktion für die freiheitliche demokratische Grundordnung zugesprochen. Nicht ohne Grund den Auftrag erteilt, Wächter und Kontrolleur zu sein. Aber die reale Lage ist eine andere. Durchsuchungen, Beschlagnahmen, Telefonüberwachung, fehlende Informationsfreiheit, ökonomischer Druck – das ist die Wirklichkeit, in der sich Journalisten heute wiederfinden. Die Folge: Deutschland liegt auf Platz 17 im Ranking der Pressefreiheit.

Mit den Hausdurchsuchungen bei den CamS21-Reportern fügt sich die Stuttgarter Justiz nahtlos in dieses Bild. Wenn die Herren des Morgengrauens dreimal klingeln, sagen sie, sie suchten nach Beweismitteln (die sie schon lange haben), und meinen etwas ganz anderes: Lasst die Finger von der Kamera. Und sie wissen, dass sich die öffentliche Empörung darüber in Grenzen halten wird, weil die Graswurzeljournalisten von CamS21 im Mediengeschäft kleine Fische sind. Wichtig sind sie für die Bürger der „Stuttgarter Republik“, die nach ungefilterten Informationen verlangen.

Ob die Staatsanwälte und Richter damit juristischen Erfolg haben werden, ob es zu Anklagen oder Urteilen kommen wird, ob das Bundesverfassungsgericht die Urteile nach Jahren wieder kassieren wird, ist dabei nebensächlich. Entscheidend ist das Klima der Angst, der Verunsicherung und Demotivation, das auf diese Weise bewusst geschaffen wird. Wer geht noch auf eine Demonstration, wenn er/sie Gefahr läuft, an der nächsten Ecke als „potenzieller Täter“ abgegriffen zu werden? Wer will zur Kasse gebeten werden, wenn die Polizei Schäden exorbitant hochrechnet? Wer will sich mit Menschen zusammentun, die im Ruf stehen, Räuber und Gewalttäter zu sein? Auch so ist eine Protestbewegung kleinzukriegen. Und genau darum geht es.

Nun fordern viele S-21-Gegner, Ministerpräsident Winfried Kretschmann müsse seine Stimme erheben und diesem Treiben Einhalt gebieten. Das ist falsch. Die Courage, zu sagen, hier läuft etwas gewaltig schief, müssten die Polizisten, Staatsanwälte und Richter selbst haben. Damit würden sie dem Rechtsstaat einen wirklichen Dienst erweisen.