WIR:HIER

Kapitel 8

In einer Stunde bin ich weg, Mama. Ich pass auf Max auf und weiß nicht genau, wie spät es wird. Auf alle Fälle bin ich vor Mitternacht zu Hause. Frau Stankowski und ihr Mann sind auf einem Geburtstag eingeladen. Und vergiss nicht: Morgen fahren wir direkt nach der Schule nach Töplitz. Ich bin Samstagabend zurück.“

Lauras Mutter schaute vom Computer hoch.

„Ich sehe es nicht gerne, wenn du in der Woche babysittest, das weißt du genau.“

„Wir haben erst zur dritten Stunde. Französisch fällt die ganze Woche aus. Ist also kein Problem, und Herr Stankowski gibt mir außerdem Geld fürs Taxi nach Hause. Keine Angst, ich fahr nicht mit der S-Bahn. Das ist es doch, was dir Sorgen macht, oder?“

„Na gut. Papa und ich gehen heute Abend ins Kino und morgen muss ich früh in die Kanzlei. Dann sehen wir uns in aller Ruhe am Samstag. Ich koch was Leckeres.“

„Nicht nötig. Wir essen bestimmt noch zusammen, bevor wir zurückkommen.“

„Wo esst ihr was? Bei Stankowskis?“

Mama hatte ihr überhaupt nicht zugehört. Dreimal hatten sie schon über das geplante Wochenende im Ferienhaus von Felix gesprochen. Jedes Mal sagte ihre Mutter „Aha“, und „Jaja, erzähl mir das heute Abend noch mal in Ruhe“, sie hatte es sogar erlaubt, aber verstanden, worum es geht, hatte sie nicht. Laura erklärte es ihr nochmal. Ganz langsam sprach sie mit ihr, damit sie endlich kapierte.

Im letzten Jahr war die Clique, die aus Schul- und sonstigen Freunden bestand, in den Sommerferien für eine Nacht nach Töplitz gefahren, da waren noch die Eltern von Felix dabei. Dieses Mal hatten sie sich verabredet, um seinen sechzehnten Geburtstag zu feiern, Felix Eltern waren einverstanden, sie alleine fahren zu lassen. Sie wollten grillen, chillen, Musik hören, im See baden, weit weg von der Stadt, und vor allem keine Erwachsenen um sich haben.

Das Babysitten bei Stankowskis allerdings hatte sie erfunden. Stattdessen würde sie Matteo treffen, um diese bescheuerte Mutprobe hinter sich zu bringen und da sie immer noch nicht wusste, um was es dabei ging, dachte sie, es wäre besser, den Eltern eine andere Story aufzutischen. Sie brauchte Zeit, und eigentlich musste sie an Schultagen um 21.30 Uhr zu Hause sein.

Fast drei Tage elternfrei. Perfekt! Laura pfiff vor sich hin, als sie eine Taschenlampe in den Rucksack packte. Sie zog eine schwarze Hose und ein schwarzes Shirt an, band sich ein Tuch um den Kopf und kam sich ein bisschen vor wie eine Gangsterin, die sich auf einen Juwelenraub vorbereitete. Ihre Aufgeregtheit erstaunte und amüsierte sie. Um kurz vor sieben stand sie an der verabredeten Bushaltestelle, fast gleichzeitig kam Matteo an. Er schloss sein Fahrrad an eine Laterne, nickte ihr zu und sagte: „Hätte ich nicht gedacht, dass du kommst.“

„Pech gehabt.“

Er setzte sich zu ihr auf eine der drei Bänke, die neben der Bushaltestelle standen. Sie blickten auf die Ruine des Anhalter Bahnhofs, im Rücken lag das Tagespiegel-Gebäude. Links ragte das Excelsiorhaus in den Abendhimmel. Matteo packte seinen Tabak aus, drehte eine Zigarette und bot sie Laura an. Dann sah er prüfend ins langsam verschwindende Dämmerlicht. „Wir haben noch Zeit.“

„Ich hab alle Zeit der Welt.“

Sie rauchten still, bis Laura sagte: „Bescheuert ist das schon, oder?“ Matteo nickte „Total. Aber jetzt, wo wir alleine sind: Von mir aus sagen wir den anderen, wir hätten irgendwas gemacht und besprechen stattdessen, wie es mit dem Wettbewerb weitergeht. Wir können auch würfeln oder Billard spielen und wer gewinnt, entscheidet. Da drüben ist ‚ne Bar.“

Er nickte hinter sich in Richtung Lokal und Laura fiel zum ersten Mal auf, dass er leuchtendgrüne Augen hatte. Sie fand ihn viel netter als sonst und lachte. „Ich wusste, dass dir nichts einfällt. Aber von mir aus“, sie hob die Hände, „ich kann schweigen wie ein Grab.“

„Nee, Quatsch, ich wollte dir einfach eine Chance geben, einen Rückzieher zu machen, ohne das Gesicht zu verlieren. Prinzesschen.“

Sie drehte ihren Kopf zu ihm und blitzte ihn an. „Kannste mal mit diesem blöden ‚Prinzesschen‘ aufhören!“

Dann sah sie sein Grinsen. „Wollt nur ausprobieren, ob es noch klappt.“

Er holte zwei Dosen Limo aus seinem Rucksack und erzählte Laura, worum es geht. Sein Cousin hätte ihn darauf gebracht. Der sei ein ziemlicher Idiot und so ein abgedrehter Wehrmachtsfan. Kein Nazi, das nicht, aber trotzdem völlig bescheuert. Sammelt alles, was er in die Finger bekommen kann, Hauptsache, es hat mit Soldaten zu tun. Der jedenfalls habe ihm bei einer Familienfeier mal total betrunken erzählt, dass in Berlin noch Unmengen von Nazi-Schätzen vergraben wären. Einen Teil davon vermute man in den Tunnelanlagen rund um den Anhalter Bahnhof.

Der war früher ein wichtiger Bahnhof, ist aber im 2. Weltkrieg total zerstört worden und was an Ruinen noch übrig war, wurde später gesprengt. Bis auf die Reste des ehemaligen Haupteinganges vor ihnen, die hat man als Denkmal stehen gelassen. Der Bunker direkt daneben, der ist auch aus dem Krieg, den kann man nicht sprengen, die Wände sind zu dick. Jetzt ist da ein Gruselkabinett drin. Von den Nazis wurde damals ein riesiges unterirdisches Tunnelsystem angelegt. Flughafen Tempelhof, Anhalter Bahnhof, Reichskanzlei, Führerhauptquartier seien damit verbunden gewesen. Die hatten sogar eine unterirdische Autobahn geplant. Heute seien die meisten Tunnel zugeschüttet oder -betoniert, aber eben nur die meisten. Nicht alle. Und ein Eingang sei angeblich so ziemlich genau unter ihren Füßen. Matteo sah Laura an.

„Was meinst du? Sollen wir mal nachgucken, ob da was dran ist?“

Von den Nazis wurde damals ein riesiges unterirdisches Tunnelsystem angelegt

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist imVerbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher ausunabhängigen Verlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de