Aus Liebe geschrieben

PORTRÄT Eine russische Dichterin wird wiederentdeckt: Vera Louriés Lebenserinnerungen, neu publiziert in der Zeitschrift „Sinn und Form“, erzählen von der Migrationskultur aus dem Berlin der Zwischenkriegszeit

Überfüllte Wohnungen, russisch zubereiteter Tee, Hauskatzen und große Lieben

VON BARBARA KERNECK

Vera Lourié konnte hartnäckig sein, schon als Kind. Während eines Urlaubs im Sankt Petersburger Datschenvorort Pawlowsk drängte sie ihre Mutter, ihr Kindermädchen und eine Bekannte, im engem Gänsemarsch hinter ihr her zu gehen. Die Entgegenkommenden lachten über die Prozession. Gekränkt vom Gelächter rief Veras Kindermädchen: „Lachen Sie nur! Lachen Sie nur! Wer weiß, was aus dem Kind mal wird?“

Vera Lourié wurde 1901 in Sankt Petersburg geboren und emigrierte 1921 nach Berlin. In der Zeitschrift Sinn und Form sind nun bisher nicht publizierte, auf Deutsch niedergeschriebene Erinnerungen der russischen Dichterin erschienen. Sie liefern uns eine Antwort auf die Frage, was aus der Anführerin der Prozession wurde, und zugleich ein Stück Berliner Stadtgeschichte. Niedergeschrieben hat Vera Lourié diese Memoiren als alte Dame in Form von Briefen an ihre letzte große Liebe, die Ehefrau ihres damaligen Hausarztes.

In das Lehrerseminar, dessen Besuch ihr zubestimmt gewesen war, steckte sie ihre Nase nur ein einziges Mal – zu langweilig! Beim berühmten Dichter Nikolaj Gumiljow besuchte Lourié stattdessen Kurse für kreatives Dichten. In jener Bürgerkriegszeit, in der abendliche Vergnügungen wegen der Ausgangssperre immer eine ganze Nacht dauern mussten, nahm sie einmal stolz mit dem geliebten Lehrer an einer Orgie teil und trank gepantschten Alkohol. 1921 wurde der Antibolschewik Gumiljow verhaftet und als Volksfeind erschossen. Veras Familie floh gen Berlin.

In den drei Jahren zwischen 1919 und 1922 ließen sich in Charlottenburg, Wilmersdorf und Schöneberg rund 360.000 russische EmigrantInnen nieder. Über 80 russische Verlage existierten in dieser Parallelwelt voller kyrillischer Reklameschilder. Die junge Frau konnte ihre Gedichte veröffentlichen, strikt in dem von Anna Achmatowa und Gumiljow etablierten Stil des Akmeismus: klare Worte, klassische Versmaße. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie mit Rezensionen. Der Schriftsteller Andrej Bely, einer der Stars dieser Szene, schrieb über das damalige Berlin, man könne hier an der Gedächtniskirche alle Leute treffen, die man in Moskau oder Sankt Petersburg jahrelang vergeblich zu treffen gehofft hatte.

Exilanten und Avantgarde

Der geniale Exzentriker Bely reagierte seine inneren Spannungen beim Tanz in den Kneipen des bayrischen Viertels ab. Für die russische Literatur besaß er eine ähnliche Bedeutung wie James Joyce für die englischsprachige. Vera Lourié begleitete ihn oft, ebenso wie Ilja Ehrenburg. Der lebte in Berlin ganz offiziell als sowjetischer Korrespondent und sollte später Stalins Hofdichter werden. Noch gab es keinen eisernen Vorhang. Die Berliner russischen Intellektuellen und die sowjetische Avantgarde trafen sich hier ungeniert und diskutierten über künstlerische und politische Konzeptionen.

Nach Einführung der harten Reichsmark nach 1923 und dem Ende des Bürgerkrieges in Russland zogen die meisten russischen EmigrantInnen weiter nach Paris, New York oder zurück in die Heimat. Vera Lourié blieb und schlug sich durch, indem sie Sprachunterricht erteilte, Englisch, Französisch, Russisch.

Über 60 Jahre lang sollte sie schließlich in ein und derselben Wilmersdorfer Altbauwohnung leben. Studenten und Journalisten, die sie in den 80er Jahren besuchten, sahen, dass die alte Dame an junge, meist russischsprachige Leute untervermietete und selbst im Durchgangszimmer schlief. Sie beklagte sich nicht.

Denn dies hatte sie auch noch erlebt: der Unterschied zwischen Armut und Reichtum bedeutet manchmal den Unterschied zwischen Leben und Tod. Ihr Verlobter, ein in Berlin tätiger russischer Anwalt, starb im KZ Dachau. Ihre Mutter, die nicht die Mittel zur Flucht aus Nazi-Deutschland besaß, wurde als Jüdin verhaftet und ins KZ Theresienstadt deportiert. Sie überlebte, ebenso wie Vera selbst, die nach acht Wochen Gestapo-Haft wieder freigekommen war.

Hochbetagt erlebte die Lyrikerin so etwas wie eine bescheidene späte Anerkennung. Anfang der 80er Jahre wurde sie von Thomas Beyer, einem Slavisten aus den USA, entdeckt und ein Band mit Gedichten erschien. Mit über neunzig Jahren las sie 1995 während der Berliner Festwochen unter großem Beifall aus ihrer Autobiografie, deren Veröffentlichung sie nicht mehr erlebte.

Vera Lourié starb 1998 im Alter von 97 Jahren. In ihrem an historischen Umbrüchen reichen Leben gab es außer der Enge überfüllter Wohnungen viele Konstanten: russisch zubereiteten Tee, ihre Hauskatzen, große Lieben und die von alledem gespeiste Inspiration.

■ „Sinn und Form. Beiträge zur Literatur“. Herausgegeben von der Akademie der Künste, Heft 4/2011