Affenkopfpilz statt Schnitzel

MYKOLOGIE Was folgt aus dem Regensommer? Pilzgerichte! Unser Autor hat einen Waldspaziergang gemacht – und seine Fundstücke in die Pfanne gehauen

Der Igelstachelbart soll nach Geflügelfleisch mit zitroniger Note schmecken und kann wie ein Schnitzel paniert werden

VON JAN WEHN

Den Sonntagmorgen nach dem Pilzesammeln verbringe ich in der Notaufnahme im Vivantes Klinikum in Berlin-Friedrichshain. Glücklicherweise nicht, weil mir das selbstgekochte Gericht auf den Magen geschlagen ist: Eine Zecke hat sich in meine Nase gebohrt und will da freiwillig nicht wieder weg. Eine Tetanusspritze später und um den Zeckenkopf erleichtert stehe ich wieder vor dem Krankenhaus. Es regnet schon wieder, ich suche Schutz unter einem Baum und schaue mich um: Selbst hier in der Stadt wachsen Pilze, um den Stamm herum.

Dass es in diesem Jahr besonders viele davon gibt – und besonders früh im Jahr –, liegt an dem vielen Regen, hatte Hansjörg Beyer mir erklärt. Beyer ist der Pilzberater des Landes Berlin. „Eine gewisse Feuchtigkeit im Substrat ist förderlich, damit die sogenannte Pilzpflanze, das Myzel, wachsen kann.“ Mittelmäßige Temperaturen, zwischen 15 und 20 oder 25 Grad, wären dazu optimal. Der verregnete, unentschiedene Sommer macht aus Deutschlands Wäldern in diesem Jahr also ein Pilzparadies.

Hansjörg Beyer ist geprüfter Pilzsachverständiger nach den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Mykologie. Jeden Montagnachmittag sitzt er im Botanischen Museum in Berlin-Dahlem in seinem Sprechzimmer. In den Vitrinen stehen gefriergetrocknete Pilze, in den Regalen Ratgeber und Fachbücher. Hier berät der 44-jährige Pilzsammler, die nicht weiterwissen. Beyer kennt sich aus.

Ich dagegen kann gerade mal einen Champignon von einem Steinpilz unterscheiden. Darum soll Hansjörg Beyer mir helfen, vom Sommerregen herangezüchtete Speisepilze zu finden. Im Botanischen Garten geht es los. Hansjörg Beyers Blick klebt am Boden und wandert rastlos am Wegesrand entlang. In Baumnähe wird er besonders aufmerksam.

„Hier haben wir einen Perlpilz“, ruft Beyer, beugt sich hinunter und dreht den Stiel mit einer sichelförmigen Klinge aus dem Boden. Am oberen Ende seines Pilzmessers ist eine kleine Bürste angebracht, mit der er die Erdkrumen von seinem Fund abputzt. Den Perlpilz, so Beyer, dürfe man nach dem Kochen guten Gewissens verspeisen. „Unter keinen Umständen darf man ihn aber mit dem giftigen Pantherpilz verwechseln“, mahnt er. Die beiden sähen sich täuschend ähnlich. Nach dem Gartenspaziergang fahren wir Richtung Wannsee in den Düppeler Forst.

1973 ging Beyer das erste Mal „in die Pilze“. Seitdem beschäftigt er sich – hauptberuflich Stadtoberinspektor – in jeder freien Minute mit Pilzen. Hansjörg Beyer kann nicht nur giftige von ungiftigen Pilzen unterscheiden, er weiß auch, welche wirklich lecker schmecken. In diesem Jahr veranstaltet er zum ersten Mal auch einen Pilzkochkurs.

Speisepilze haben einen ergiebigen Fruchtkörper, der bis unter den Hut mit Nährstoffen und Vitaminen vollgepackt ist – und auch noch schmeckt. Das Spektrum von süß bis scharf und von mild bis würzig erinnert sogar an andere Lebensmittel. Der Igelstachelbart, auch Affenkopfpilz oder Löwenmähne genannt, soll nach Kalbs- oder Geflügelfleisch mit zitroniger Note schmecken und kann wie ein Schnitzel paniert werden. Der kleine Knoblauchschwindling schmeckt fast so intensiv wie eine Zwiebel. Den entdecken wir zwar nicht, dafür aber den Kampfermilchling: ein kleiner brauner, intensiv riechender Pilz, dessen Geruch an die Würze aus der braunen Flasche erinnert – nicht zu verwechseln mit dem Maggipilz, der nach Liebstöckl duftet. Beyer trocknet viele dieser Exemplare, zerkleinert sie im Mörser und bewahrt sie in Schraubgläsern als Würzzusatz für Suppen und Saucen auf.

Aber auch geschmacklose Pilze eignen sich zur Verwendung in der Küche: als Füllmaterial für Mischpilzgerichte oder – so wie der hübsch anzuschauende Rötliche Gallerttrichter – als Dekoration auf dem Salat. Dennoch warnt der Pilzkundler vor einer „Konsummentalität“. Die Natur sei kein Supermarkt, der etwas umsonst anbiete. „Beim Pilzesammeln wird die Natur berührt. Da sollte jeder Mensch rücksichtsvoll mit umgehen und auf der Suche nicht durch Schonungen trampeln, Tiere aufschrecken oder die Pilzwurzeln herausreißen.“

Nach vier Stunden ist mein Körbchen bis zum Rand gefüllt: Es gibt klassische Funde wie den Sommersteinpilz und den Echten Pfifferling, Exoten wie Apfel- und Papageientäublinge, Stockschwämmchen, sogar einen Riesenschirmling. Ich entscheide mich für ein Zwei-Gänge-Menü: als Vorspeise Stockschwämmchensuppe, danach eine klassische Pilzpfanne mit Wildreis.

Zu Hause lasse ich alle Pilze durch meine Hände wandern. Der Pfifferling riecht süßlich, die Steinpilze verströmen einen erdigen Geruch. Damit kann man nichts falsch machen, denke ich. Anders beim Rotfußröhrling, der im Wald noch gelb-grünlich leuchtete und jetzt bläulich angelaufen ist. Das liegt zwar nur an der Oxidation, sieht aber trotzdem befremdlich aus. Dazu die gummiartige Konsistenz – den soll man essen können? Einzig den Flaschenbovist – ein pelziges Ei mit cremeartiger Füllung – sortiere ich aus.

Dann schneide ich den ungenießbaren, aber zur Erkennung wichtigen Stengel von den Stockstämmchen ab, schwitze eine gewürfelte Zwiebel im Kochtopf an und gebe die Pilze hinzu. Sie werden solange gedünstet, bis die bräunliche Flüssigkeit wieder eingekocht ist. Dann stäube ich etwas Mehl über die röstenden Zwiebeln. Parallel dazu koche ich eine Gemüsebrühe mit einem Schuss Weißwein und schütte sie über die Schwämmchen.

Während das Süppchen vor sich hinköchelt, mache ich mich an die Pilzpfanne. Die Täublinge, Röhrlinge, Steinpilze und Pfifferlinge schneide ich klein. Sie kommen zum Speck, den ich in Frühlingszwiebeln angebraten habe. Zwanzig Minuten brutzelt es in der Pfanne. Am Ende schmecke ich alles mit Rosmarin, Muskat und Petersilie ab. Dazu gibt es den ungeschälten Wildreis und ein Glas Weißwein. Bloß kein Schnickschnack. Es geht ja schließlich um die Pilze.

Und die schmecken sehr gut. Ich kann nicht jeden einzelnen Pilz und seine Eigenarten herausschmecken – aber das, was sich da auf meiner Zunge abspielt, ist definitiv aufregender als alles, was ich bis dahin in Sachen Pilze probiert habe. Einmal ist es ganz kurz sehr scharf, dann wieder versöhnlich mild – es schmeckt nach Pilz und Wald und nicht so fad wie die in blaue Folie gehüllten Designerchampignons aus dem Supermarktregal. Oder die Dritte-Wahl-Pilze aus der Dose.

An diesem Abend bin ich versöhnt mit dem, was früher mal Sommer genannt wurde.