LESERINNENBRIEFE
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Trauer um die Zauntoten

■ betr.: „Leben in Grenzen“, sonntaz vom 13. 8. 11

Die Geschichte hält ja ach so viel Unbill bereit, welche erinnerungswürdig ist. So ist es richtig und wichtig, daran zu erinnern, dass von einem Unrechtsstaat die Erschießung von Unschuldigen befohlen wurde, so diese so tollkühn sein sollten, eine Flucht über die Mauer, die Grenzanlagen des „Antifaschistischen Schutzwalles“ zu wagen. Das ist Mord gewesen, und zwar von einem (pseudo-!)sozialistischen Staatsapparat, und dies dutzend- oder hundertfach.

Aber: An der Grenze der USA zu Mexiko sterben jedes Jahr Hunderte verzweifelte Menschen, erheblich mehr als in fast 30 Jahren Mauer, im Mittelmeer sterben jedes Jahr Tausende, die nach Europa zu fliehen suchen, um Hunger und Elend zu entkommen (an dem die Europäer geschichtlich als auch aktuell erhebliche Mitschuld tragen).

Ich empfinde es als unwürdig und typisch, die Verbrechen des Sozialismus unter Fähnchenschwenken, Trauerreden und Predigten, sowie das Hervorkramen der ewig Verbitterten, in die Dämonenecke zu stellen, wohin das Heutige nicht minder gehört, eher noch mehr.

Dies ist nämlich kapitalistisches Verbrechertum, wo es (Reise-)Freiheit nur für die gibt, die sie sich leisten können oder auf der richtigen Seite des Wassers geboren wurden, wo die Agrarsubventionen den Hunger in Afrika verschärfen, wo die „Festung Europa“ nicht bei der Ausreise, sondern bei der Einreise tötet. An diesem Tage sollten wir daher auch die Grenzen betrachten, welche wir gezogen haben und immer noch ziehen, und die Zauntoten in Amerika und die angespülten Wasserleichen in „unseren“ Badeparadiesen! Wo ist denn bitte der Trauergottesdienst für sie? THOMAS TREICHEL, Leipzig

Emotional unterentwickelte Elite

■ betr.: „Mit Härte in den Klassenkampf“, taz vom 12. 8. 11

In Ihrem Artikel zu den Aufständen in Großbritannien wird auch der Begriff „Elite“ angeführt. Der wird ja auch hierzulande immer noch gern als Qualitätsmerkmal für eine „rettende Kaste“ genutzt.

Dazu mein Buchtipp: Erich Fromms „Haben oder Sein“ ist immer noch hochaktuell. Die Elite wird hier als Marketingcharakter beschrieben. Studien an amerikanischen Managern ergaben schon damals ein „erschreckendes Bild emotionaler Unterentwicklung“, also einer Art organisierter Lieblosigkeit und Empathielosigkeit für sich selbst und ihre Mitgeschöpfe. Daran hat sich nix geändert.

Adorno sagte: „Die soziale Kälte hat Auschwitz möglich gemacht.“ Gegen diese Kälte stehen immer mehr Menschen auf, und das ist gut so. Also: Weiter warmlaufen! MARITA BLESSING, Delmenhorst

Verachtung für die Unterschicht

■ betr.: „Die Entfremdung ist überall spürbar“, taz vom 13. 8. 11

In Großbritannien herrscht extreme soziale Ungleichheit wie in kaum einem anderen westlichen Industrieland. Das Ausmaß der Einkommensungleichheit hat inzwischen fast wieder das Niveau wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreicht. Nicht mehr Pauperismus (Massenverelendung) wie zur Zeit Charles Dickens kennzeichnet heute Ungerechtigkeit. Diese tritt vielmehr in neuen Formen auf, wie der britische Professor für Human Geography, Daniel Dorling, in seinem neuen Buch „Injustice, why social inequality exists“ zeigt: als Mangel an Bildung(schancen), Einkommen, die zur Exklusion führen, Verachtung und Vorurteil gegenüber der Unterschicht (Elitedenken), extremer Reichtum, Gier sowie Sorge und Hoffnungslosigkeit. Auch wir begeben uns auf diese schiefe Ebene. Auch hier sangen bis vor Kurzem Angehörige der „Eliten“ und selbsternannte „Leistungsträger“ immer dreister das hohe Lied der Ungleichheit. DIETER LEHMKUHL, Berlin