Kein Fall für die „Profifamilie“

Wegen „eingeschränkter intellektueller Fähigkeiten“ entzieht man dem Ehepaar Kutzner das Sorgerecht für seine Töchter. Beim Europäischen Gerichtshof holen sie sich die Kinder zurück. Dann entscheiden sie: Die Mädchen sollen ein Internat besuchen

von Christian Jakob

Annette Kutzner ist eine zertifizierte Tagesmutter. Von der „Ländlichen Erwachsenenbildung Osnabrück“ hat sie sich dazu ausbilden lassen, 100 Stunden lang. „Gesundheit des Kindes“, „Grundlagen der Entwicklungspsychologie“, solche Kurse hat sie besucht. Am 25. November 1997 erhielt sie ihre Urkunde. Seitdem darf sie, ganz offiziell, Kinder anderer Leute am Tage betreuen.

Ihre eigenen Kinder hat ihr das Vormundschaftsgericht Bersenbrück am 14. Februar 1997 weggenommen. Die heute 39-Jährige und ihr 41-jähriger Mann Ingo, ein Arbeiter, seien „unverschuldet erziehungsunfähig“, so das Gericht: Das Paar sei „intellektuell eingeschränkt“.

Annette und Ingo Kutzner leben in der Nähe der Gemeinde Badbergen in Westniedersachsen. In den 80er Jahren besuchten sie die „Hasetalschule“ in Quakenbrück. Dort wird beschult, wer auf der örtlichen Hauptschule nicht mithält. 1991 heirateten sie, die Tochter Corinna wurde geboren, zwei Jahre später Nicola.

Der Hausarzt der Familie stellte 1994 einen Entwicklungsrückstand bei den Kindern fest. Das Jugendamt schaltete sich ein, es sah das Kindeswohl gefährdet, weil die kognitiven Entwicklungspotenziale nicht zur bestmöglichen Entfaltung gebracht würden. Die intellektuellen Anreize in der Familie seien nicht ausreichend. Die Mädchen kamen in einen Förderkindergarten. Zusätzlich unterstütze eine Familienhelferin die Eltern zu Hause. Vom Jugendamt beauftragte Psychologen konstatierten „massive Entwicklungsdefizite“ bei den Kindern. Die Eltern, so schrieben sie, seien hiermit überfordert. Das Sorgerecht wurde ihnen entzogen, die Kinder kamen, getrennt voneinander, in zwei Pflegefamilien.

Annette Kutzner arbeitet in einem Textilbetrieb, Ingo Kutzner war bis Anfang Juli als Hausmeister in einer Grundschule beschäftigt. Dann lief die Stelle aus. Die beiden leben gemeinsam mit Ingo Kutzners Bruder Detlef und den Eltern der Brüder in einem Haus, das wie ein kleiner Bauernhof aussieht. Es steht allein an einer Landstraße, umgeben vom Weizenfeldern. In der Nachbarschaft ist eine Forellenzucht, die nächste Stadt liegt einige Kilometer entfernt. Im Wohnzimmer ist es etwas düster, einige Vogelkäfige stehen darin und viele ausgestopfte Tiere hängen an der Wand.

Die Eltern sind sehr ruhig, fast etwas schüchtern, und lassen lieber die resolute Großmutter erzählen. An die Einzelheiten des Gerichtsverfahrens erinnern sie sich jedoch genau, haben alle Unterlagen, alle Daten sofort parat. Ihren Alltag meistern sie zweifellos selbständig.

Als die Rede auf die Pflegefamilien kommt, schaltet Ingo Kutzner sich ein. „Ich habe den Richter damals gefragt, ob er glaubt, dass ‚Profifamilien‘ ihre Kinder mehr lieb haben. Da hat er gar nichts mehr gesagt.“ Er sagt das nicht so, als ob er Beifall für seine Schlagfertigkeit erheischen wollte.

Die „Profifamilien“, das sind die zwei Pflegefamilien der „Gesellschaft für familienorientierte Sozialpädagogik“ (GfS) in Meppen im Emsland. Die privatwirtschaftliche GfS hat sich den Begriff „Profifamilie“ rechtlich schützen lassen. In einer „Profifamilie“ „verfügt mindestens ein Elternteil über eine pädagogische Ausbildung,“ so die GfS. Kinder, die das Jugendamt von ihren leiblichen Eltern trennt, vermittelt die GfS an solche „Profifamilien“. Und kassiert. Im Fall der Kutzners genau 7.269 D-Mark für „Hilfen zur Erziehung in einer betreuten Wohnform“. Im Monat. Umgerechnet 122 Euro davon konnte das Jugendamt bei der Familie pfänden.

An die Zeit der Trennung erinnern sich die Kutzners nicht gern. Corinna und Nicola waren in „Inkognito-Pflege“. Dabei erfahren die Eltern nicht, wo die Kinder untergebracht sind. Ein Besuchsrecht mussten sie sich vor Gericht erstreiten. Einmal im Monat, eine Stunde lang, durften sie die beiden Mädchen sehen. Bestimmte Themen waren tabu. Ob die Kinder gern nach Hause wollen, beispielsweise. Oder alles, was die stets anwesenden Kontrolleure der GfS als unbotmäßige Beeinflussung der Kinder betrachtet hätten.

Fünf Jahre ging das so. Die Kutzners packten Geschenke ein, fuhren nach Meppen und kamen zurück. Als der Großvater lebensbedrohlich erkrankte, weigerte sich die GfS, den Kindern einen Besuch im Krankenhaus zu erlauben, erzählen die Kutzners. „Wegen der Entwöhnung.“

Im Februar 2002 entschied schließlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg: Nur weil ein anderes Umfeld für die Entwicklung der Kinder günstiger sein könnte, dürfe man sie nicht von den leiblichen Eltern trennen. 23.000 Euro wurden den Kutzners zugesprochen – und das Sorgerecht.

Die Mädchen zogen zurück in ihre Kinderzimmer, die Eltern meldeten sie in der örtlichen Regelschule an.

Doch Corinna und Nicola kamen dort nicht zurecht – die Schule fiel ihnen schwer. Ihre Eltern bemerkten dies zwar, doch viel tun konnten sie nicht: „In einigen Fächern konnten wir ihnen auch nicht so helfen“, sagt Ingo Kutzner. Nach einiger Zeit entschied die Familie, die beiden Mädchen in einem nahe gelegenen Internat anzumelden. Dort würden sich auch am Nachmittag Pädagogen um Corinna und Nicola kümmern.

Die Entscheidung war ganz freiwillig. „Das Jugendamt hatte damit nichts zu tun“, sagt Ingo Kutzner. Nach den Jahren in der Pflegefamilie eine erneute Trennung – für die Kinder sei dies am Anfang „schwer zu verstehen gewesen“. Seit drei Jahren leben die Mädchen nun im nahe gelegenen Schwagstorf. „Am Wochenende und in den Ferien kommen die Mädchen zu uns.“ Schwierig sei die Trennung schon, aber erträglich, sagt Annette Kutzner. „Wir wollen schließlich auch nur das Beste für die beiden.“