„Sie sind voller Hass, vom Staat enttäuscht“

AUFARBEITUNG Die Vorsitzende der Wahrheitskommission über den Zusammenhang von Vergangenheit und aufkeimendem Terrorismus und zur Frage, warum nur ausgewählte Opfer öffentlich auftreten sollen

■ 64, ist Journalistin und eine der bekanntesten Menschenrechtlerinnen Tunesiens. Die einstige Sprecherin des Nationalen Rats für Freiheit in Tunesien (CNLT) bezahlte für ihre Kritik am Regime des Diktators Ben Ali mit Haft und Exil. Sie organisiert das oppositionelle Internetradio Kalima. Seit Sommer ist sie Vorsitzende der Instanz für Wahrheit und Würde (IVD).

taz: Frau Bensedrine, eine Wahrheitskommission mit 24 Regionalbüros, zahlreichen Unterkommissionen, 600 Mitarbeitern – lohnt sich dieser Aufwand? Ein Großteil der Opfer der Menschenrechtsverletzungen sind ehemalige politische Gefangene. Diese wurden doch direkt nach dem Sturz Ben Alis amnestiert.

Sihem Bensedrine: Eine Amnestie ist keine Rehabilitierung. Das Amnestiegesetz macht die als „Kriminelle“ Verurteilten zu dem, was sie sind, zu politischen Oppositionellen. Die Annullierung der Urteile hat nur zur Folge, dass sie jetzt arbeiten können. Das war ehemaligen politischen Gefangenen nicht gestattet. Echte Rehabilitierung ist jedoch einiges mehr. Wir müssen den Opfern die Möglichkeit geben, zu erzählen, was passiert ist. Der Staat wird öffentlich eingestehen, dass er die Grundrechte dieser Bürger verletzt hat. Es werden Verantwortlichkeiten innerhalb des Staatsapparats und die Akteure dieser Menschenrechtsverletzungen benannt.

Warum ist eine solche Aufarbeitung notwendig?

Die Opfer, sowohl diejenigen, die unter der Diktatur verfolgt wurden, als auch die Jugendlichen, die das Regime letztendlich stützten, haben enorme Erwartungen an uns. Wir hören immer wieder: Ihr seid unsere letzte Hoffnung. Wird die Vergangenheit nicht umfassend aufgearbeitet, bleiben Wunden, die Gesellschaft ist weiterhin krank. Der Hass kommt immer wieder hoch. Das ist gefährlich.

Besteht ein Zusammenhang zwischen der Vergangenheit und der aufkeimenden terroristischen Gewalt?

Ja. Woher kommen denn all die Jugendlichen, die sich radikalisieren? Wir haben sie nicht importiert, es sind Leute von hier. Oft handelt es sich um Nachkommen der Opfer. Sie sind voller Hass, vom Staat enttäuscht. Sie lassen sich leicht instrumentalisieren. Wenn wir Wiedergutmachung leisten, ihrem Vater einen öffentlichen Platz widmen, ihn ehren, den Kindern als Wiedergutmachung Arbeit geben, wenn wir ihnen ihre Geschichte zurückgeben und sie stolz sein lassen auf ihre Geschichte, wird die Quelle des Hasses, der Gewalt und des Terrorismus in Tunesien hoffentlich endgültig versiegen.

Sie wollen nicht alle Anhörungen im Fernsehen ausstrahlen. Warum?

Öffentliche Anhörungen müssen eine Reihe von Kriterien erfüllen. Wir müssen klären, warum eine bestimmte Geschichte für die Allgemeinheit wichtig ist, welche Erzählungen Licht auf die Maschinerie der Diktatur als solche werfen. Wenn sich Berichte wiederholen, werden wir sie nicht ausstrahlen.

In Südafrika war das anders.

In Südafrika wurde alles ausgestrahlt und viele Opfer wurden danach nicht damit fertig. Wer über schwere Menschenrechtsverletzungen berichtet, durchlebt sein Leiden noch einmal. Es kam zu vielen Selbstmorden nach der Anhörung. Wir müssen deshalb die Opfer selbst im Auge behalten. Sind sie überhaupt in der Lage, eine solche öffentliche Anhörung zu bewältigen? Wir werden deshalb die Opfer, die öffentlich auftreten, psychologisch betreuen. Das ist sehr aufwendig. Deshalb werden wir nur bestimmte Fälle in der öffentlichen Anhörung behandeln.

Wird die Kommission mit der Justiz zusammenarbeiten?

Wir sind nicht Teil des Justizapparats, sondern eine Wahrheitskommission. Wir werden Dossiers erstellen. Wenn es darin um schwere Menschenrechtsverletzungen wie Folter oder Vergewaltigungen geht, dann stehen wir vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nicht verjähren. Solche Dossiers werden wir an die Justiz weitergeben. Seit der Revolution gibt es dort im Rahmen der sogenannten Übergangsgerichtsbarkeit spezielle Kammern für solche Fälle.

INTERVIEW: REINER WANDLER