ausgehen und rumstehen
: It’s like a Dschungel sometimes. Eine Nacht im Kim auf der Brunnenstraße

Das Kim ist ein archäologisches Juwel. Zwei Epochen Berliner Nachtlebens entblättern sich in der kleinen weißen Clubbar in der Brunnenstraße. Die Vernissagen-Raver der Neunziger, die in spackigen Montags-, Dienstags-, Mittwochsbars die Kunst kultivierten, die Grandezza eines Sternburg-Dosenbieres gegen die Vulgarität einer Moet-&-Chandon-Magnumflasche auszuspielen, finden sich hier genauso wieder wie eine noch ältere Spezies: die Club-Defilierer. Die Club-Defilierer hatten ihren großen Auftritt in den Achtzigern in der Nürnberger Straße. Genau: auf der Freitreppe der einzigen Disco, die exzentrischem Glamour in Berlin eine Inszenierungsfläche gab, dem Dschungel. Die Türsteher trugen Armani-Anzüge von Harvey’s am Kurfürstendamm, die Gäste Claudia-Skoda-Strick und Trachtenjacken. Und man defilierte die Treppe rauf und runter. Ungefähr zwei Stufen pro halber Stunde. Die Fingerspitzen nachlässig auf dem Messinggeländer.

Das war wahrscheinlich die Geburtsstunde des Zeitlupen- Vogueings. Mae West als Vorbild, Madonna als Nachahmerin. Poster-Boys und -Girls in gespreiztem Gefieder. Dann fiel die Mauer, es regnete Ecstasy, und durch das ganze In-den-Armen-Liegen vergaß man, dass die Nacht der Raum für selbst entworfenes Bigger-than-life ist und nicht einfach nur ein biedermeierlicher Harmonieknast mit Ringelpietz. Keine Schärfe, keine Konfrontation, kein Showing-off, nur Gefühlswatte. Der Toilettensalon im Cookies in der Charlottenstraße war der letzte Nachklang der versunkenen Dschungel-Ära. Die einen tanzten, die anderen pissten, morgens kombinierten manche dann beides. Ein bisschen wie zur Pestzeit, als man sich zu Totentanzorgien hinter hochgezogenen Burgtoren versammelte. Der Kleinbürgertraum vom Leben mit ausgerolltem roten Teppich. Grandios.

Eine Freitreppe ist so ein starkes Symbol. Ohne die Treppe wäre das Kim nur eine weitere Bar mit Ambitionen, mit nett gedachter Einrichtung von Studenten mit Geschmack, aber begrenzten Mitteln und einem Gemischtwaren-Musikprogramm, das keinerlei Definitionsmacht behaupten will. Eine Donnerstags-Bar eben, nett, um nach dem Galerienrundgang durch die Brunnenstraße noch einen entspannten Absacker zu nehmen. Aber wer will Entspannung? Die Treppe bringt die Spannung, wie sie da im hinteren Bereich mit ihrer Aura den Laden zum Glimmen bringt. Das haben auch Murkudis, die Gentleman-Instanz für Designermode in Mitte, und der Ex-Dior-Designer Hedi Slimane erkannt, die beide schon ins Kim geladen haben, und Jörg Koch, Herausgeber des Magazins für visuelle Kultur 032c, der im Scooterboy-Chic mit Harrington-Blouson die Gelegenheit nutzte, als Selector an der Tür für ordentlich Wirbel zu sorgen, damit man sich bloß nicht einbildete, man wäre nur auf einer Party unter vielen.

Ich postiere mich auf der Treppe, die Fingerspitzen der linken Hand leicht auf dem Geländer, und sehe alles wieder vor mir: den Türsteher, der mit seinem Armani-Arm nach innen winkt, nackte Brüste unter einem Netzpullover (ich war erst 17), den Typ mit dem Porsche-Schlüssel, zu dem es gar kein Auto gab, den DJ, der genauso wie ich eine Trachtenjacke mit echten Hirschhornknöpfen trug. War es nicht sogar Clé, der Musik von den „Zimmermännern“ spielte?

Während Hedi Slimane The Smiths und Blur auflegt und ich mit der dritten Stephanie des Abends rede und mich nicht erinnern kann, welche man nun ungestraft Steffi nennen darf und welche nicht, schießt es mir durch den Kopf: „Kim? So heißt doch die eine Figur im Dschungelbuch. Kim – Dschungelbuch – Dschungel. Der Kreis ist geschlossen.“ Und ich bin mir ziemlich sicher, dass das kein geringer Gedanke war. JAN JOSWIG