Enthastet im Treibhaus

Mit öffentlichen Verkehrsmitteln quer über die Alpen? Eine prima Idee, die dem Klima guttut und den Reisenden entlastet. Und in einigen Teilstücken funktioniert sie auch – etwa mit dem berühmten Glacier Express, der „langsamsten Schnellbahn der Welt“. Der Rest ist Abenteuer

Anreise mit der Bahn, das Shuttle wartet schon. In größeren Orten gibt es Erdgas- oder Elektrobusse, in kleineren reichen Fahrräder oder Spaßfahrzeuge wie Segways (Elektroroller, die wie Rasenmäher aussehen): so stellt man sich eine Reise nach dem Prinzip der Sanften Mobilität vor. Und es gibt sie bereits als ganz konkretes Angebot: Die Alpine Pearls sind ein Zusammenschluss von mittlerweile 21 Gemeinden aus dem europäischen Alpenraum. Infos zum Konzept, aber auch zu Angeboten der einzelnen Orte: www.alpine-pearls.com In der Schweiz verpflichtet sich die Gemeinschaft Autofreier Schweizer Tourismusorte zur Förderung der öffentlichen Verkehrsmittel und zur „Selbstbeschränkung der Mobilität“. www.gast.org In Deutschland gibt es die Interessengemeinschaft für autofreie Kur- und Fremdenverkehrsorte in Bayern. www.iakf.de Am einfachsten ist Urlaub mit Öffentlichen innerhalb einheitlicher Tarifsysteme: einmal ein Ticket kaufen, tagelang alle Verkehrsmittel nutzen. Die Österreichische Bundesbahn (ÖBB) bietet ein „Alpenperlenticket“ an, das für 143 Euro 7 Tage lang freie Fahrt ermöglicht. Im kleineren Südtirol geht es noch günstiger. Mit der Mobilcard für 25 Euro sind die neue Vinschgerbahn, Citybusse, Trams und Seilbahnen frei. BW

VON BEATE WILMS

Natürlich weiß man es längst, aber so eindrucksvoll wie von der Konkordiahütte in den südlichen Berner Alpen aus bekommt man es selten zu sehen: Die Gletscher schmelzen. Hier, auf gut 2.850 Meter Höhe, beweist nicht nur das Rauschen des Schmelzwassers, dass die Erderwärmung auch den gewaltigen Aletschgletscher schon ganz schön mitgenommen hat. Mehr als 300 Treppenstufen, die in steilen Windungen nach unten führen, liegen zwischen der Holzterrasse und dem Eis. Als die Hütte vor 130 Jahren erbaut wurde, stand sie mitten im Gletscher, der seitdem einfach weggeschrumpft ist. In den letzten 150 Jahren sind rund 3,2 Billionen Liter Wasser abgeschmolzen, fünfmal so viel, wie die gesamte Schweizer Bevölkerung in einem Jahr verbraucht.

„Nirgends kann man den Treibhauseffekt so direkt wahrnehmen wie hier in den Alpen“, sagt Marcella Morandini, die Geschäftsführerin des Ökoinstituts Südtirol in Bozen. „Und zugleich kommen fast drei Viertel aller Gäste mit dem Auto.“ Bei rund 120 Millionen Übernachtungen im Jahr entsteht so eine gewaltige Menge von Kohlendioxid, das die Atmosphäre weiter aufheizt. „Die meisten Urlauber können sich nicht vorstellen, dass sie sich hier ohne eigenes Fahrzeug fortbewegen können“, glaubt Morandini – und will das Gegenteil beweisen. Im Rahmen eines EU-Projekts mit dem Namen „Alpine Awareness“ wirbt sie bei Gästen und Alpenbewohnern für Sanfte Mobilität: Urlaub mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Fahrrad oder zu Fuß. Das ist nicht nur gut fürs Klima, sondern auch fürs eigene Gemüt. „Das ist doch ein schönes Markenzeichen für den Alpentourismus: enthasteter Urlaub.“

Auch in Brig, dem Hauptort des Wallis, sieht man das Schrumpfen des Aletschgletschers hoch über der Stadt als Alarmzeichen. „Meine Großeltern haben noch erzählt, wie die Hotelbesitzer ihre Leute im Sommer mit schweren Pickeln den halben Berg hochschickten, damit sie Brocken zum Kühlen aus dem Eis klopften“, sagt Paul O. Arnold. Heute müsse man dazu schon fast bis zum Grat steigen.

Der Betriebswirtschaftler ist beim Thema Klima ganz in seinem Element: Im vergangenen Jahr hat er die Bewerbung der 5.000-Einwohner-Gemeinde für den Titel der „Alpenstadt“ 2008 koordiniert. Mit dem Label wird die Gemeinde ausgezeichnet, die sich am vorbildlichsten „für eine nachhaltige und zukunftsweisende Entwicklung ihrer Stadt und ihrer Region“ einsetzt. „Wir profitieren aber auch von der Verkehrspolitik des Bundes“, sagt Arnold. Die Schweiz setzt viel offensiver als alle ihre Nachbarn darauf, den Verkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern, und gibt dafür Milliarden aus. Und so kommt man nicht nur in Brig selbst auf gut ausgebauten Fahrradwegen überallhin und mit Postbussen an jeden denkbaren Ausgangspunkt für Wanderungen. Auch die Anfahrt ist komfortabel. Gerade ist der Lötschbergbasistunnel eröffnet worden, die erste alpenüberquerende Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke. Er halbiert die Fahrtzeit zwischen Brig und dem 155 Straßenkilometer entfernten Bern auf 60 Minuten. Auch von Deutschland aus ist man jetzt eine Stunde schneller hier.

Und wer von Brig aus die Alpen weiter erkunden will, kann auf die über hundert Jahre alte Rhätische Bahn zurückgreifen. Die Schmalspurbahn verbindet die West- und die Ostalpen und erspart hunderte von Kilometern auf der Autobahn oder kurvenreichen Passstraßen. Als „langsamste Schnellbahn der Welt“ – so die Eigenwerbung – schaukelt der Glacier Express seine Passagiere in Richtung Graubünden an alten Walliser Holzhäusern und barocken Dorfkirchen vorbei durch das Rhonetal und in steilen Serpentinen bergan zum 2.033 Meter hohen Oberalppass, wobei ein zusätzlicher Zahnradantrieb die Lokomotive unterstützt.

Erfunden haben das Markenzeichen Sanfte Mobilität aber weder das Südtiroler Ökoinstitut noch die Schweizer – es waren die Österreicher. Das Wiener Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft initiierte vor vier Jahren das EU-Projekt Alps Mobility. Daraus entstanden die Alpine Pearls, ein Zusammenschluss von 21 Alpengemeinden aus fünf Ländern. Sie organisieren dem Gast nicht nur die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern geben ihm auch eine Mobilitätsgarantie durch ausgetüftelte Kombinationen von Bussen, Shuttles, Wandertaxis und Elektrofahrzeugen. Auch in Brig denkt man über eine Bewerbung nach.

Die italienische Gemeinde Chamois gehört schon dazu. Dass sie eine Gemse im Wappen hat, kommt nicht von ungefähr. Der 100-Seelen-Ort auf 1.815 Meter Höhe ist ausschließlich mit einer Seilbahn von Buisson aus zu erreichen. Am Start noch in Sichtweite des Matterhorns, schwebt sie eine Viertelstunde steil bergan. Oben bewegt man sich vorwiegend zu Fuß, aber es gibt auch einige Elektroautos und ein, zwei Dieselgeländewagen, Gäste können Mountainbikes mieten. Die Entscheidung gegen den Straßenbau fiel Mitte des vergangenen Jahrhunderts, weil die Stadtoberen schon damals lieber auf einen Tourismus für Naturliebhaber als einen für die Massen setzten.

Werfenweng in Österreich ist ein anderes Beispiel. Hier holt ein Shuttle Besucher, die mit der Bahn anreisen, vom Bahnhof in Bischofshofen ab. Wer sein Bahnticket bei der Tourismuszentrale vorzeigt – oder seine Autoschlüssel für die Dauer des Aufenthalts abgibt –, kann einen ganzen Fuhrpark an Elektrofahrzeugen nutzen, umsonst an Ausflügen in die Umgebung teilnehmen oder auch mal den gemeindeeigenen Toyota Prius Hybrid für eine besondere Tour ausleihen.

Aber bei den Einzelangeboten der Perlengemeinden soll es nicht bleiben. Die Vision ist so etwas wie ein Alpenperlenticket. Eine Netzkarte, mit der der Reisende mit öffentlichen Verkehrsmitteln von der westlichsten Perle, dem französischen Les Gets, bis ins deutsche Berchtesgaden über 1.200 Kilometer weiter östlich fahren kann.

„Die Verbindungen sind da“, sagt Marcella Morandini. „Es gibt Busse, Bahnen, Seilbahnen und zur Not Fahrräder.“ Ein praktischer Versuch, den sie Anfang Juni mit Journalisten wagte, zeigte allerdings auch die Tücken der Sanften Mobilität. Neben der Schweiz haben zwar auch Österreich und Südtirol ihren öffentlichen Verkehr bestens organisiert, aber an den Übergängen hakt es noch. Und in Italien und Frankreich ist man ohne Auto erst recht ziemlich aufgeschmissen. Auf jeden Fall braucht man viel Geduld – und Abenteuerlust.

Allein für die Strecke von Les Gets in den Savoyer Alpen zur Montblanc-Seilbahn nach Chamonix muss man nicht nur zweimal umsteigen, sondern auch drei verschiedene Tickets kaufen. Sollbruchstellen gibt es praktisch bei jedem Wechsel. Denn die Fahrpläne sind nicht aufeinander abgestimmt, viele Busse fahren nur zweimal am Tag, und kombinieren lassen sich die unterschiedlichen Verkehrsträger auch nicht – jedes Mal muss man wieder nach Kleingeld suchen. Und manchmal sitzt man auch komplett fest, wenn Busse wegen Fahrplanänderungen ersatzlos ausfallen oder Bergbahnen wegen schlechten Wetters gesperrt sind.

„Es ist ein politisches Problem“, sagt Morandini. „Wir sind meilenweit von einem Europa ohne Grenzen entfernt.“ Während die Mobilitätsexpertin darauf hofft, dass die EU-Projekte und das Experiment helfen, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen, zoffen sich die Perlengemeinden schon. Vor allem der Tourismusdirektor von Arosa im Schweizer Kanton Graubünden stellt das gemeinsame Marketing in Frage. „Es gibt doch in Wirklichkeit keine gemeinsamen Standards“, sagt Hans-Kaspar Schwarzenbach. Wenn manche der italienischen Perlen gar nicht mit Öffentlichen zu erreichen seien, „macht das uns doch alle unglaubwürdig“. Sein Vorschlag: die Perlen in unterschiedliche Klassen aufzuteilen.

Dabei würde Arosa seiner Meinung nach natürlich in die Spitzenklasse gehören. Denn Schwarzenbach nimmt für sich in Anspruch, den „klimaneutralen Urlaub“ erfunden zu haben: Jeder Gast, der dieses Paket bucht, kann ausrechnen lassen, wie viel Kohlendioxid er mit Anreise und Aufenthalt verursacht – die Stadt Arosa investiert dann in Klimaprojekte, die das kompensieren. Bis jetzt allerdings ist der Beratungsaufwand groß und die Nachfrage eher gering.

Vielleicht auch deshalb ist man sich bei den Alpine Pearls noch nicht ganz sicher, wie kompromisslos das Konzept der Sanften Mobilität überhaupt verfolgt werden soll. Auf jeden Fall basteln die Mitgliedsgemeinden nebenbei munter weiter an ganz anderen, weniger klimaschonenden Angeboten. Und da tun sich Schweizer, Italiener und Deutsche nichts: Chamois plant die Erweiterung des alten, kaum noch genutzten Flughafens. Statt nur einer Maschine pro Woche soll es künftig während eines jährlichen Festivals eine Woche lang täglich 40 Starts und Landungen geben. Arosa ist Ziel eines alljährlichen Bikertreffens von Harley-Davidson-Fans. Und Bad Reichenhall und Berchtesgaden werben damit, dass der nahe Flughafen in Salzburg nun auch von Billiglinien wie TUI Fly angeflogen wird. Gabi Deml, die Geschäftsführerin der Berchtesgadener Land Tourismus GmbH: „Da lohnt es sich, auch nur für ein Wochenende von Köln oder Hamburg aus herzukommen.“